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Gesang der Wale oder Die stummen Seejungfrauen reden

Untertitel
Helmut Oehrings Musiktheater „BlauWaldDorf“ wurde im Stadttheater Aachen uraufgeführt
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Der Zusammenhang und die Wechselwirkungen von Hören und Sehen erscheinen selbstverständlich. Und sie sind es doch nicht. Besonders nachdrücklich hat dies in den letzten Jahren Helmut Oehring ins Bewusstsein gerückt. Er vermittelt, was diesen Zusammenhang und Kontrast betrifft, in hohem Maß autobiografisch genährte Erfahrungen: 1961 in Berlin geboren, wuchs Oehring im Haushalt gehörloser Eltern auf (als Hörender). Seit einigen Jahren forscht und komponiert er nun auf dem Feld der Audiovisualität. Freilich wurde er, und das mag ihm heute (zum Erhalt einer gewissen „Bodenhaftung“) zustatten kommen, zunächst zum Baufacharbeiter ausgebildet und jobbte auch in anderen praktischen Berufen; spielte nebenbei Gitarre. Doch dann begann er, zunehmend intensiv, sich mit Neuer Musik zu beschäftigen und überhaupt mit Fragen des Hörens, der Wahrnehmung, des Hervorbringens von Ton, Klang und kommunikativen akustischen und nicht-akustischen Äußerungen. Für ihn, so sagt er, sei Sehen wichtiger als Hören; und das Sehen „gekoppelt an Sprache, Kommunikation, Mitteilung“.

Der Zusammenhang und die Wechselwirkungen von Hören und Sehen erscheinen selbstverständlich. Und sie sind es doch nicht. Besonders nachdrücklich hat dies in den letzten Jahren Helmut Oehring ins Bewusstsein gerückt. Er vermittelt, was diesen Zusammenhang und Kontrast betrifft, in hohem Maß autobiografisch genährte Erfahrungen: 1961 in Berlin geboren, wuchs Oehring im Haushalt gehörloser Eltern auf (als Hörender). Seit einigen Jahren forscht und komponiert er nun auf dem Feld der Audiovisualität. Freilich wurde er, und das mag ihm heute (zum Erhalt einer gewissen „Bodenhaftung“) zustatten kommen, zunächst zum Baufacharbeiter ausgebildet und jobbte auch in anderen praktischen Berufen; spielte nebenbei Gitarre. Doch dann begann er, zunehmend intensiv, sich mit Neuer Musik zu beschäftigen und überhaupt mit Fragen des Hörens, der Wahrnehmung, des Hervorbringens von Ton, Klang und kommunikativen akustischen und nicht-akustischen Äußerungen. Für ihn, so sagt er, sei Sehen wichtiger als Hören; und das Sehen „gekoppelt an Sprache, Kommunikation, Mitteilung“. Von Kindesbeinen an war er nicht nur, wie die meisten Kinder, von der alltäglichen Simultaneität des Hörens und Sehens sowie deren Wahrnehmung geprägt, sondern auch, sogar primär von der dreidimensional-räumlichen Syntax der Gebärdensprache, es war und ist die Kommunikationsform seines Elternhauses. Er lernte sie noch vor der Lautsprache. Kein Zufall also, dass er seit seiner ersten an die Öffentlichkeit gedrungenen Komposition – „Wrong“ (1993) – in seinen Stücken und Beiträgen zu Gesamtkunstwerken regelmäßig die Gebärdensprache verwendet, die einen extremen Gegenpol zu allen Tonsprachen bildet (es ist die einzige „Sprache“, die ohne Bezug auf Auditives allein über das Auge funktioniert).

In den knapp zehn Jahren seit dem ersten Auftreten als Komponist mit dem als frappierend wahrgenommenen Hinweis auf „alternative“ Formen akustischer Wahrnehmung entwickelte sich Oehrings Komponistenkarriere steil. Anfang der 90er-Jahre hatte er, spät berufen, bei Georg Katzer an der Akademie der Künste zu Berlin studiert; wurde dann als Stipendiat der Villa Massimo in Rom und weitergehend mit einer ganzen Anzahl von Preisen gefördert. Einen vorläufigen Höhepunkt erfuhr das noch vergleichsweise junge Komponistenleben mit der Musik zu Thomas Schadts Film „Berlin – Sinfonie einer Großstadt“ (2001/2002), die er (wie eine Reihe weiterer Arbeiten) gemeinsam mit Iris ter Shiphorst auf den Weg brachte.

Es ist kein Zufall, dass Oehrings kompositorische Ambition sich (und vehement) auf das Medium Film richtet, denn dies – so bekennt er freimütig – spiele für ihn eine größere Rolle als die herkömmlichen und neuen Formen der Musik. Sein künstlerisches Vorgehen sei denn auch, so konstatierte Roland Kluttig, der die „Berlin-Sinfonie“ mit dem SWR-Orchester einspielte, „eher das eines Filmers. Den Ablauf bestimmen harte Schnitte, Überblendungen, Fade in, Fade out. Die Szenen, Zwischenspiele und Einschübe sind quasi Ortswechsel. Sie haben alle einen eigenen Raum, enger oder weiter. Erreicht wird das durch wechselnde Ensemblegröße“. Und Zufall war es auch nicht, dass Oehrings Mitte der 90er-Jahre vom Berliner Hebbel-Theater produzierte (dann von der Münchener Biennale präsentierte) Tanz- und Video-Oper „Das d’Amato-System“ als ein durch Filmschnitttechniken und Collage-Praktiken verwirrtes Produkt erschien, dessen „Szenen für sich erkennbar und beschreibbar, aber kaum verstehbar blieben“ (Wolfgang Sandner, FAZ, 18.5.1996).

Da es ihm „zu direkt“ sei, „in der Sprache des Sehens Geschichten zu erzählen über das Sehen“, hat er sich darauf verlegt, an den Seh- und Hörgrenzen einer neuen Kammermusik und eines neuen Musiktheaters die Probleme des Hörens und Sehens zu demonstrieren. Im vergangenen Jahr – wiederum mit Iris ter Shiphorst als Co-Komponistin – in der Hülle einer veritablen „Literatur-Oper“: „Effi Briest“ nach Theodor Fontane (präsentiert von der MusikFabrik NRW in der Bundeskunsthalle Bonn). Da tat sich zu einer anfechtbaren Reduktion des Romans und seiner (in ihren Artikulationsmöglichkeiten zunehmend eingeschränkten) Heldin eine durchaus kunstfertige Kompositionsweise auf, die in freier Atonalität ihren Ausgangspunkt hatte, auch immer wieder mit wild zerklüfteter Lineatur aufwartete, auffällig aber zugleich durch Sext- und Terz-Kombinationen die Oberfläche reharmonisierte: Belebung und Beseelung des weiten Psychogramms durch die illustrativen und kontrastierenden, mitunter einfach nur wattierenden und begütigenden Mittel der Tonkunst. Effis Seelenlage verschaffte eine Gebärdensolistin mit erratischen Gesten und auf Leiderfahrung verweisenden Gutturallauten zusätzlichen Nachdruck.

Der vom Posten des Dramaturgen an der Bonner Oper auf den Intendantensessel im Stadttheater Aachen gewechselte Paul Esterhazy zog die nächste Oehring-Produktion an sein Haus: „BlauWaldDorf“ oder „weit-aus-ein-ander-liegende Tage“. Diese „musiktheatralische OrtSuche“, inspiriert von Hans Christian Andersens Märchen von der Seejungfrau, erwies sich als Erkundungsreise der intensionsreichsten Art in die Grenzzonen des Hörens. Theaterprinzipal Esterhazy trat als Reiseleiter auf: bei der Premiere von „BlauWaldDorf“ und bei den Folge-Vorstellungen warb er, wie bereits bei früheren neuen Werken, für das Verständnis des Publikums. Diesmal freilich entwickelte sich das didaktisch von Musikbeispielen gestützte Vorprogramm zu einer künstlerischen Introduktion aus dem Geist und mit einem zentralen Mittel des Hauptprogramms: Christina Schönfeld, eine der gehör- und sprachlosen Gebärden-Solistinnen des Abends übersetzte die Anmerkungen simultan in einer wahrhaft theatralischen Aktion in die Taubstummensprache.

Für Oehring war und ist Andersens Märchen vor allem Kindheitserinnerung und rätselhaftes Potenzial, dem er auch bei der Transformation des Sujets auf der Musiktheaterbühne den Rätselcharakter belassen möchte. Es ist die noch immer recht bekannte Geschichte des unergründlichen Wesens aus dem feuchten Element, das um der Liebe willen den Fischschwanz ablegt (und dafür die beim Tanzen so schrecklich schmerzenden Füße erhält), sogar die Stimme preisgibt. Diese Fabel wird freilich nicht als Märchen- oder gar Kinder-Oper präsentiert, sondern als intellektuell kalkuliertes Produkt – durchschossen mit einem in Variationen weiterverarbeiteten Motiv aus Claudio Monteverdis Lamento der von Theseus verlassenen Ariadne. Auch dieses „Stilmittel“ wirkt in Oehrings Œuvre, wie die ganze Art seiner Melange, mittlerweile vertraut: das 1998 bei den Donaueschinger Musiktagen vorgestellte „Requiem“ integrierte im Streben nach einem unmittelbar zu Herzen gehenden „Sprachduktus“ des Tonsatzes in heiterer Cross-over-Laune die Dissonanz-Standards der mitteldeutschen Neuen Musik mit Passus-durisculus-Chromatik, plakativem Posaunenlamento und feschen Rock-Anklängen. Zu klagen gibt es allenthalben.

Bei seinem neuesten Projekt „erzählte“ Oehring das Märchen nun nicht einfach nach, sondern ließ es aus Gesten, gesungenen und eingeblendeten Text-Partikeln aufscheinen (zugleich eintrüben von frei hinausassoziierenden Begriffen wie „Verlorenwasser“, „erdkörperleicht“ oder „Trockengrauwind“, „BlikStille“, „luftkalt“ oder „Ruhedorfmenschen“). Die vorwiegend ruhig tragende, nur gelegentlich von heftigen rockmusikinspirierten Eruptionen unterbrochene Tonspur stützt die Gebärden-Choreographie der drei gehörlosen Solistinnen. Gemeinsam verkörpern sie, denen Muscheln, Sandhügel und ein Goldfisch im Wasserglas als beziehungsreiche Symbole zugeordnet sind, die Undine – jene denaturierte Stumme der radikal modernisierten Fabel. Deren „Idylle“, die keine ist, wurde vom Regisseur Claus Guth und vom Ausstatter Christian Schmidt an einen Un-Ort verlegt: halb fensterloses Hotelzimmer mit Waschecke im Schrank, halb Ankunftsbereich eines Flughafens mit doppelter Rolltreppe. Der Subtext „weit-aus-ein-ander-liegende Tage“ erhielt eine auf Einheit des Orts und der Zeit gerichtete „Raumgrammatik“ zugesellt. Das hoch artifizielle Klang-Produkt fand so einen kühl-angemessenen optischen Rahmen, im Dirigenten Jeremy Hulin einen engagierten Interpreten, im Bariton Hans Lydman und im Bassisten Claudius Muth ein Duo moderner Prinzen, das gegen die optische und gestische Überlegenheit der drei Nixen die der sonoren männlichen Organe aufbot.

Die aus einer frühneuzeitlichen Klangfigur entwickelten „Lamento-Inseln“ verweisen – ähnlich entsprechenden Einsprengseln in Salvatore Sciarrinos „Tödlicher Blume“ – auf das, „worum es sich bei jeder anständigen Oper dreht“ (und seit der Erschaffung dieser Kunstform): „um allergrößte Liebe, allergrößte Erfüllung und allergrößten Schmerz durch das Scheitern, das Versagen, das Vergessen, das Versprechen“ (Oehring). Dass schon zur Premiere eine größere Zahl Gehörloser anreiste, wundert nicht. Sie bekamen etwas für sie unmittelbar Verständliches geboten. Freilich eröffnet sich auch den Hörern eine neue Welt der Wahrnehmung – und gerade denen mit den am Neuen interessierten Eidechsen-Ohren. Denn bei der Liebe kommt es bekanntlich mitunter auf die kleinste Geste an und auf das genaueste Zuhören. Wenn im Schlussteil der Produktion die drei so schönen taubstummen Akteurinnen endlich auch einmal die Stimme erheben, dies eine Mal sich mit diesem für alle Liebesbekundung so entscheidenden Mittel artikulieren wollen, überlagert die aus transformierter Monteverdi-Lineatur gewonnene Traurigkeit ein Ton ganz besonderer Leiderfahrung, ähnlich dem Gesang der Wale in der Tiefe des Meers.

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