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Gute künstlerische Perspektiven, Europa schläft

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Warschauer Herbst und deutsch-polnische Musiktagung · Ein Bericht von Reinhard Schulz
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Das Musikfestival „Warschauer Herbst“ definiert sich schon seit Jahren neu. Man will nicht mehr bloß Drehscheibe zwischen Ost und West sein, sondern selbst die Diskussion mitgestalten und befruchten. Und der Blick auf die polnischen Positionen der letzten gut 50 Jahre gibt hierfür reichlich Rückhalt. Wenn zum Beispiel der 1929 geborene Boguslaw Schaeffer meint, dass er in seinen frühen Arbeiten die meisten relevanten Techniken der Avantgarde vorweggenommen habe, so möchte man ihm angesichts seiner jetzt wieder zu Gehör gebrachten, 1953 geschrieben Musik für Streichorchester (mit Clustern, Glissandi oder Obertonstrukturen) durchaus Recht geben. Und kaum ein anderes Land hat sich 30 Jahre später so sehr in den Wohlklängen der Postmoderne gesuhlt wie Polen – und dabei im eigenen Lande die heftigsten Reaktionen der Altavantgarde und des elektronischen Lagers hervorgerufen.

Der 49. Warschauer Herbst präsentierte sich als Nabelschau. Dass es keine beschränkte Eitelkeit ist, bewies zum Beispiel ein ganzer Tag mit polnischen Streichquartetten: Werke von Bacewicz, Lutoslawski, Penderecki, Gorecki bis hin zu Knittel, Wielecki und vielen anderen blätterten ein Spektrum ästhetischer und technischer Ansätze auf, das kaum weiter zu denken wäre: Stücke, die vielleicht mit beiden Beinen im Vergangenen oder in der Zukunft stehen, zu schwanken beginnen und dazu beitragen, dass die Begriffe von Fortschritt und Restauration selbst in Schräglage kommen. Und die Debatte wurde zugespitzt in einem beachtlichen Konzert, in dem alte polnische Volksmusik mit ihren fremden Skalen und mikrotonalen Abschweifungen konfrontiert wurde mit Elektronik oder extremen, halbimprovisatorischen Strukturen, die auf das Volksgut mit kühnen Wendungen reagierten. Positiv aufgefallen war auch dieses Jahr das Konzert des vom Deutschen Musikrat initiierten deutsch-polnischen Jugendorchesters unter Rüdiger Bohn mit Uraufführungen des Ukrainers Alexander Shchetynsky und der Polin Joanna Wozny und weiteren Arbeiten von Enno Poppe, Vykintas Baltakas und Bernd Alois Zimmermann.

Ein schönes, vor allem interpretatorisch beachtliches Beispiel von Zusammenarbeit. In diesem perspektivischen Überblick des kompositorischen Standes durften natürlich auch musikdramatische Ansätze nicht fehlen. Wo steht das Musiktheater oder die Oper heute, wo gibt es Perspektiven? Dazu wurden eine Doppeloper im Science-fiction-Ambiente und ein fast operettenhaft leichtes Stück von Zygmunt Krauze (Jahrgang 1938) aufgeboten: gewiss auch mit Blick darauf, dass die Oper der großen Gefühle mit heutigen Mitteln kaum mehr zu realisieren ist und wohl ausgedient hat. Der Sidestep ins Leichtere war durchaus als richtungweisend gedacht. Nicht dass das unbedingt funktioniert hätte! Immerhin: „Die Zerstörung von Moskau ist keine Lösung“, das ist schon mal ein schöner Operntitel. Und auch der junge russische Komponist Sergej Newski (Jahrgang 1972) hat in den letzten Jahren immer wieder mit interessanten Kompositionen auf sich aufmerksam gemacht. Aber dieses Projekt ging gründlich schief. Gekoppelt war es mit der Tandem-Oper „Scream You“ der noch nicht 30-jährigen polnischen Komponistin Aleksandra Gryka. Worum geht es? Geplant beziehungsweise zum Teil verwirklicht ist eine u Opern-Saga in sechs Folgen (Autor: Tobias Dusche, jede Folge ein neuer Komponist), die zu drei Staffeln zusammengefasst werden. Es sind Folgen von Raumschiff-Abenteuern mit dem Gefährt „La Fenice“, dem Kommander Kobayashi und weiteren vier Hermenauten. Sie stürzen durchs All, langweilen sich, sind verwirrt von den Anleitungen Kobayashis, der keinen vernünftigen Satz über die Lippen bringt und damit für die Kryptik des Geschehens der absolut Geeignete ist. In Staffel zwei rast das Raumschiff über Moskau und Warschau und die Mann/Frauschaft wird von den irritierenden Kraftfeldern dieser unheimlichen Orte in Beschlag genommen. In Moskau sind es merkwürdige Veränderungswellen, die alles bestimmen (auch die erkundenden Hermenauten) aber letztendlich an alte Leinen gelegt werden. Und in Warschau treibt ein Zwillingspärchen sein Unwesen, infiziert Viren, die lösende Schreie evozieren. Alle verändern sich, doch nach dem Rausch folgt ein altvertrauter Kater.

Während Newski mit diesem Sujet kaum etwas anfangen konnte und nicht gewillt war, sich auf die Albernheiten des Plots einzulassen – seine Musik klang fast wie die Verweigerung von Musik –, fand Aleksandra Gryka mit heulenden Glissandostrukturen, exaltierten Koloraturen und schmatzenden Virusinfektionen durchaus das passende Klangambiente. Hier bekam man einen Eindruck, was vom geplanten Opern-Sixpack erwarten könnte. Doch derzeit befindet man sich hauptseitig auf ästhetischer Warteschleife.

Dass es ganz ohne solch schwitzende Wuchtungen gehen kann, bewies hingegen Zygmunt Krauzes leichtfüßiges Stück „Yvonne, Prinzessin von Burgund“ nach einem surreal jugendforschen Text von Witold Gombrowicz. Krauze, vielleicht einer der auch gesellschaftlich wendigsten Komponisten Polens, hat hier mit ganz wenigen, aber passgenau gesetzten musikalischen Strichen die Groteske um ein auf- bzw. abgetakeltes Königs/Adelsgeschlecht gezeichnet, dessen Dekadenz und Intriganz sich an der wortlosen Prinzessin Yvonne spiegelt. Man sucht dieses schlechte Gewissen, das Yvonne darstellt, umzubringen, aber Yvonne stirbt, als letztes Abendmahl inszeniert (Marek Weiss-Grzenski), ganz unspektakulär an einer Fischgräte. Die Musik kommt mit wenigen Unisono-Wendungen aus, zitiert schräg aus Unterhaltungstänzen, und erfasst dabei haarscharf die kritische Schärfe des Textes. Hier war ein Weg angedeutet, wie Musiktheater ohne schwarzes Pathos, ohne falsche Gewichte zu gestalten wäre. Standortbestimmungen dieser Art suchte der Warschauer Herbst in diesem Jahr, vor dem groß geplanten 50. Geburtstag im nächsten, aufzuzeigen.

Dass neue Musik lebt und auch gesellschaftliche Marksteine zu setzen weiß, steht also außer Frage. Dass aber angesichts der neuen Aufgaben, die sich der Kultur angesichts eines europäischen Zusammenwachsens stellen, eine ähnliche Aufbruchsmentalität herrscht, lässt sich weit weniger dingfest machen. Seit sechs Jahren trifft sich nun der Deutsche Musikrat zur Zeit des Warschauer Herbstes gewissermaßen vor Ort mit parallelen polnischen Organisationen, um auf der einen Seite deutsch-polnische Akzente zu setzen, die auf der anderen Seite auch als Beispiel oder Initial für gesamteuropäische Aktivitäten fungieren könnten. Eines ist klar: Die Kultur wird von den europäischen Gremien sträflich vernachlässigt. Die Wirtschaft mit ihren vereinheitlichenden juristischen Regelwerken dominiert hier fast alles, allenfalls flankiert von Sicherheits- und Verteidigungsüberlegungen, die Kultur kippt demgegenüber hinten weg und man belässt sie gerne auf nationaler oder regionaler Ebene. Ratlos steht man Tendenzen der Europa-Verdrossenheit gegenüber, ohne zu erkennen, dass gerade hier die Kultur als wirksamer und perspektivenreicher Hebel fungieren könnte.

Das freilich haben die deutschen und polnischen Kultur- und Musikorganisationen durchaus erkannt. Und die Aktivitäten des Deutschen Musikrats zusammen mit dem Polnischen Komponistenverband und anderen polnischen Musikorganisationen (eine direkte Verbands-Parallelität existiert nicht) können durchaus eine gewisse Vorreiterrolle für sich beanspruchen. Manches wurde auch in die Wege geleitet, zum Beispiel Begegnungen auf unteren Ebenen zwischen deutschen Ländern und polnischen Woiwodschaften (als Brücke fungieren deutsche Landesmusikräte und auf polnischer Seite die Marschallämter). Zu nennen wären des Weiteren die schon erwähnte, sehr verdienstvolle Gründung eines inzwischen florierenden deutsch-polnischen Jugendorchesters, sowie die Installation eines Internet-Portals, die Deutsch-Polnische Musikbörse (bislang zweisprachig, die deutsche Adresse ist www.deutsch-polnische-musikboerse.de). Diese Plattform, die den Austausch von Informationen in Sachen musikalischer Zusammenarbeit maßgeblich erleichtert, soll als Keimzelle einer gesamteuropäischen Austauschbörse fungieren, Frankreich zum Beispiel hat schon Interesse angemeldet.

Doch vieles verläuft hier zäh. Für dieses Jahr sollte ein Europäisches Kultursignal (zur EU-Kulturförderung 2007 bis 2013) mit grundsätzlichen Forderungen erarbeitet werden, das Angela Merkel zur beginnenden Ratspräsidentschaft im Januar 2007 überreicht werden soll. Letztlich konnte man sich nur mit Mühe auf ein recht reduziertes und allgemein gehaltenes Papier einigen, in dem konkrete Forderungen nur sehr pauschal (mehr Mittel für Kultur, Transparenz, Abbau von bürokratischen Hindernissen etc.) genannt sind. Die konkrete Formulierung wurde weiteren Arbeitssitzungen überantwortet, es steht zu hoffen, dass hier die Substanz noch angehoben werden kann.

Wie dringlich freilich hier greifende Maßnahmen erforderlich sind, legte sehr anschaulich Hans Herwig Geyer von der GEMA in seinem Vortrag „Zum Verfahren der Generaldirektion Wettbewerb gegen GEMA, ZAiks und europäische Schwestergesellschaften“ dar. Er wies nach, wie fatal es seitens der EU ist, die Verwertungsgesellschaften einzig als konkurrierende Anbieter zu sehen und dabei nicht zu beachten, dass die nationalen Organisationen auch als Interessenvertreter der Komponisten im eigenen Land fungieren. Mittels des gut funktionierenden Systems der Gegenseitigkeitsverträge werden sowohl kulturelle Vielfalt als auch die Interessen von Musikschaffenden in Randbereichen oder auch in kleineren Ländern fundamental gestützt. Würden aber die Verwertungsgesellschaften einzig als Anbieter gesehen und kurzsichtig nach den Kriterien des günstigsten Angebots beurteilt, dann wäre eine Einebnung der kulturellen Reichhaltigkeit und der Schutz von gerade auf dem Gebiet der Kunst so fruchtbaren Minderheiten aufs Äußerste gefährdet.

Dieser Vortrag legte eindringlich dar, dass ein gemeinsames europäisches Vorgehen der Kulturschaffenden dringend auf der Tagesordnung steht, sollen nicht Breite des Angebots und Individualität in der Mühlen der EU-Beamten unter den hier falschen Vorzeichen des offenen Wettbewerbs geopfert werden. An dieser bürokratischen Front also ist noch viel zu tun, die künstlerischen Aktivitäten schreiten demgegenüber, wie wohl immer, mit kreativen Konzepten voran.

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