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Im Blick der Klangregie: Dirigent Johannes Harneit. Foto: Michael Hudler
Im Blick der Klangregie: Dirigent Johannes Harneit. Foto: Michael Hudler
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Innere Räume fürs Hören

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Luigi Nonos „Prometeo“ am Staatstheater Darmstadt
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Luigi Nonos Raum-Hörstück „Prometeo“ ist ein Hochamt der Musik des 20. Jahrhunderts. In den gut drei Jahrzehnten seit seiner Uraufführung waren seine Aufführungen stets umraunte Großereignisse im Rahmen bedeutender Kulturfestivals oder singuläre Großtaten ambitionierter Konzerthaus-Programme, und stets waren einige der durch Uraufführungs-Beteiligung geadelten Elektronik-Spezialisten dabei. Das Staatstheater Darmstadt war im Juli die erste öffentlich-rechtliche Bühne überhaupt, die das Werk seinem angestammten Publikum und den Abonnenten angeboten hat.

Das deutsche Stadt- und Staatstheater ist für alle da. Es kann also kein Zweifel daran bestehen, dass Nonos „Tragödie des Hörens“ als musiktheatrales Werk, das einen Problemhorizont von größter Allgemeingültigkeit öffnet, ins Stadttheater gehört, diesen geradezu modellhaften demokratisch-urbanen Kultur-Raum. Karsten Wiegand, Intendant des Hessischen Staatstheaters in Darmstadt, war dennoch der Erste, der den „Prometeo“ in den Spielplan einer öffentlich-rechtlichen Bühne rückte – mit beachtlichem Erfolg und großer und erstaunlich unprätentiöser ästhetischer Eigenständigkeit.

Das deutsche Stadt- und Staatstheater hat seine Räume, sein Personal und seinen Etat und muss damit im Großen und Ganzen hinkommen. In Darmstadt gibt es als Glücksfall eine lange Tradition der Offenheit gegenüber der musikalischen Avantgarde sowie eine Bereitschaft zum Bespiel unorthodox ausgewählter Räume. Für den „Prometeo“ stand die Böllenfalltorhalle zur Verfügung, eine sonst überwiegend dem Mannschafts-Ballsport gewidmete Betonhalle mit leicht schäbigem Sechziger-Jahre-Charme, verwaltet vom Sportamt der Stadt. Die Halle wird einigermaßen regelmäßig für musikalische Ereignisse genutzt, etwa im Rahmen der Darmstädter Ferienkurse.

Beim „Prometeo“ geht es nicht primär um eine angemessene Gestaltung des Raumes, sondern darum, in möglichst jedem Hörer den Raum für Nonos Arbeit am Mythos entstehen zu lassen. Dazu wendet das Staatstheater einen kleinen Inszenierungstrick an: Das Publikum wird mit Augenmasken ausgestattet und quasi blind in kleinen Gruppen zu den Sitzgruppen auf dem Spielfeld geleitet, wo die Augenmasken erst nach dem Prolog abgenommen werden sollen. Weil alle neugierig sind, funktioniert das natürlich nicht lückenlos, lenkt aber die Aufmerksamkeit wirksam von der profanen Umgebung auf eine andere Ebene der Wahrnehmung. Wer sich auf die temporäre Blindheit einlässt, spürt nach kurzer Zeit, dass in der Konzentration auf das Hörbare ein Raumeindruck entsteht, der durchaus beunruhigende Anteile hat, die die Wahrnehmung der Musik befördern.

Der technische Aufwand für Färbung, Verteilung und Bewegung des akustischen Geschehens ist erheblich. Für die Klangregie hat das Staatstheater Darmstadt auf das Know-how des Experimentalstudios des SWR zurückgreifen können, das zu den Nachlassverwaltern von Nonos Musik gehört. Reinhold Braig, Michael Acker und Joachim Haas sorgen für feinsinnig gestaltete Bewegungs- und Hall-Effekte. Unter der musikalischen Leitung von Johannes Harneit sind als Co-Dirigenten Joachim Enders und Thomas Eitler-de-Lin beteiligt sowie eine überaus kompetente Reihe von Gesangssolistinnen und -solisten, Instrumentalsolisten sowie das komplette Staatsorchester Darmstadt, Opernchor und Statisterie, und das Ergebnis ist von frappierender Eindringlichkeit. Überall in der Halle, bei den Musikern wie im Publikum, scheint die Überzeugung, dass so etwas noch nie getan und gehört wurde, eine große Aufmerksamkeit und Intensität herzustellen. Trotz des Aufwandes betreibt Wiegands behutsame inszenatorische Arbeit keine Überwältigungs-Ästhetik.

Alles dient der Entfaltung raumfüllender Subtilität und meditativer Konzentration. So schafft die Musik gegen jede Sporthallen-Banalität ihren eigenen Raum, ähnlich wie eine archaische Höhlenmalerei ihre Höhle in einem bestimmten Sinne auch erst erschafft. „Prometeo“ ist keine leicht zu entschlüsselnde Parabel. Wer mehr darüber wissen will, wie Luigi Nono und Librettist Massimo Cacciari die Geschichte der Menschheit als Tragödie zwischen Mythos und Aufklärung, Befreiung und Gewalt entwerfen, kann sich zu einer längeren Lektüre-Strecke einladen lassen. Das Programmheft enthält hierfür Hinweise, die Inszenierung selbst mit ihren raumgreifenden Fermaten-Klängen und ihren akustischen Irrlichtern schafft eine emotionale Erlebnis-Ebene, die bei solcher Lektüre als Erinnerung lebendig bleiben kann.

Im Laufe der zweieinhalbstündigen Aufführung wird es in der Böllenfalltorhalle langsam dunkler. Keine theatralen Schweinwerferbatterien werden gegen diesen Naturvorgang in Stellung gebracht. Wer will, kann das als einen transzendenten Kommentar zur Situation der Aufklärung am Beginn des 21. Jahrhunderts lesen. Alternativ hätte man auch im Gegenzug eine „Prometeo“-Aufführung morgens gegen drei Uhr in den beginnenden Tag hinein ansetzen können. Vielleicht könnte Nonos Komposition nicht nur ihren eigenen Raum, sondern auch ihre eigene Zeit schaffen.

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