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Kunst braucht eine Präsenz des Augenblicks

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Gedanken zum Thema Zeit
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Alles hat seine Zeit. Wie lange braucht es, eine Mozartsonate zu lernen? Eine Unterrichtsstunde vorzubereiten? Einen Studiengang zu entwickeln? Es ist faszinierend, wie viele unterschiedliche zeitliche Abläufe an einer Kunsthochschule wie der unseren parallel laufen. Das ist an anderen Institutionen vergleichbarer Größe ähnlich. Interessant ist jedoch, dass „Zeit“ gleichzeitig sozusagen unser Kerngeschäft ist, weil sich in ihr Musik, Theater und Tanz manifestieren, die uns tagaus, tagein beschäftigen.

Beim gemeinsamen Musikmachen beispielsweise ist es ein wesentlicher Faktor, unterschiedliche Zeitauffassungen zu synchronisieren und miteinander in Einklang zu bringen. Was passiert da genau? Wie findet ein Ensemble einen gemeinsamen Puls, einen gemeinsamen Rhythmus?

Wie koordiniert ein Dirigent ein großes Ensemble oder ein Orchester so, dass ein gemeinsamer Atem entsteht? Welches methodische Handwerkszeug hat er für seine Probenarbeit zur Verfügung, und wie vermittelt er es an seine Studierenden weiter? Wie verhält sich der digitale Puls einer Metronom-App zum organischen Zeitempfinden des Musikers? Wie oft soll ich eine Passage beim Üben wiederholen, um sie adäquat zu speichern? In welchem Tempo? Nach wie vielen Wiederholungen wird die Kapazität unseres Gehirns überlastet und die Passage wieder ungenauer? Wir verwenden in den Eignungsprüfungen und in der Ausbildung viel Zeit und Energie darauf, Intervall- und harmonische Verhältnisse abzufragen und zu lernen, auf welche Art und Weise eigentlich Rhythmus, abseits der Reduktion auf Quantifizierungen von langen und kurzen Signalen, gelernt und gelehrt wird.Was bedeutet Zeitempfinden für eine gelungene Unterrichtsplanung? Wir alle kennen die Angst, für eine Lehrprobe nicht genügend Material zu haben, und umgekehrt die Erfahrung, unseren Stoff, den wir uns für 30, 45 oder 90 Minuten vorgenommen haben, in der vorgegebenen Zeitspanne gar nicht unterzubringen. Wieviel

Zeit geben wir Schülern oder Studierenden, das Gelernte wirklich zu verfestigen? Wie merken wir, dass ein Stück, das wir oder unsere Schüler lernen, jetzt „reif“ ist? Wann ist es an der Zeit, die Dinge ruhen zu lassen im Vertrauen darauf, dass sie sich subkutan weiterentwickeln? Wieviel Zeit geben wir einer Singstimme, sich zu entfalten und zu entwickeln? Wieviel Zeit haben wir für persönliche und künstlerische Krisen und Umwege, die ja zum künstlerischen Weg untrennbar dazugehören?

Ich finde es interessant, dass diese Mehrdeutigkeit und Mehrdimensionalität des Zeitbegriffs an einer Hochschule wie unserer so gut greifbar wird, zumal wenn man eine Position einnehmen kann, die einen Gesamtüberblick über die inhärenten Strukturen ermöglicht (beispielsweise als kommissarischer Präsident). Wie viele andere Mitarbeiter auch erfahre ich diese Mehrdeutigkeit am eigenen Leibe - unter anderem im Konflikt zwischen den vorgegebenen Zeitstrukturen und dem eigenen Kunstwollen, in den zeitlichen Anforderungen, die durch administrative Aufgaben entstehen, im Wunsch, in der Ausbildung Möglichkeiten zur freien Entfaltung zu schaffen und diese mit den zeitlichen Anforderungen eines modularisierten Studiengangs in Einklang zu bringen.

Zeit ist relativ

„Wie viel übst Du so am Tag?“ war ja früher eine Standardfrage zwischen Studierenden, aber auch zwischen Lehrenden und ihren Schülern (die mehrfach verbürgte Antwort eines ehemaligen Lehrenden „wenn Sie weiterhin nur drei Stunden am Tag üben, sollten Sie den Lehrer wechseln“ hat sich dabei noch immer nicht als pädagogisches Standardrepertoire etabliert). Interessant ist ja nicht nur, dass die Antworten darauf sehr unterschiedlich ausfielen - der eine braucht eben drei, der andere sechs Stunden; für den einen sind zwei Stunden schon anstrengend, ein anderer übt sieben Stunden, weil es ihm Spaß macht -, sondern dass diese Frage impliziert, dass es durchaus einen individuellen Gestaltungsfreiraum gibt, wie diese Frage zu behandeln sei.

Irgendwie hat sich das - zumindest bei uns - in den Jahren seit der Einführung von Bologna geändert. Ich möchte hier nicht wieder in ein allgemeines Gejammer darüber einstimmen, was sich durch die Modularisierung unserer Studiengänge so alles zum Negativen gewandelt hat; viel interessanter und auch grundlegender finde ich die Frage, wie sich dadurch und seitdem unsere Zeitstrukturen und deren Wahrnehmung gewandelt haben.

Zeit hat jetzt eine Währung, den Credit. Sie ist quantifizierbar, vergleichbar geworden. Studieninhalte, die eigentlich hierarchisch in einem Studiengang von unterschiedlichem Gewicht sind (zum Beispiel künstlerisches Hauptfach und Hörschulung) lassen sich miteinander vergleichen. Bestimmte Inhalte, die einer flexiblen zeitlichen Gestaltung bedürfen, lassen sich nur noch ungenau abbilden. Es soll Studiengänge geben, bei deren Konzeption aufgrund curricularer und methodischer Vielfalt die vorhandenen Credits so umfassend in einen interessanten und kompetenzorientierten Fächerkanon investiert wurden, dass ein Faktor wie Überzeit schlichtweg vergessen wurde.

Dass Zeit nicht immer quantifizierbar ist - man denke nur an die Notation des Ridebeckens im Swing oder das Verhältnis von Artikulation und Dauer in der Alten Musik - ist ja nichts Neues, das macht die Sache ja gerade erst spannend. Was aber bedeutet es, wenn ein Studienplan verschiedene Größenordnungen, aber keine Hierarchien mehr kennt?

Zeitmanagement wird auch im Alltag der Studierenden immer mehr zu einem beherrschenden Thema. Ich kenne das aus meiner eigenen Unterrichtspraxis: Immer stärkeres Gewicht bekommt während der Hauptfachstunde das Gespräch und der Austausch zur Organisation von Übe- und Lernzeiten. Was bedeutet die Empfindung eines solchen zeitlichen Korsetts für die eigene künstlerische Performance?

Gestaltete und geformte Zeit

„Zeit“ ist also ein Begriff, der uns in mehrfacher Hinsicht ständig beschäftigt - zum einen als zentrales Gestaltungselement der musikalischen und darstellenden Künste: Alles, was wir erarbeiten, üben und performen, manifestiert sich als gestaltete und geformte Zeit; dieser Aspekt wird im aktuellen Hochschulmagazin der HfMDK, der „Frankfurt im Takt“, auf vielfältige Art und Weise betrachtet und beleuchtet.

Andererseits ist neben der künstlerischen Zeit für uns natürlich von Belang, wie wir mit unserer eigenen Zeit umgehen; es ist keine Selbstverständlichkeit, dass wir Zeit oft als eine Ressource ansehen, mit der wir umgehen müssen, die oft knapp zu sein scheint und über die wir selbst oft keine hinreichende Kontrolle zu haben glauben - das ist unsere persönliche Sicht der Dinge, an der die Zeit keine Schuld hat.
„Die Zeit, die ist ein sonderbar Ding“, schrieb Hugo von Hofmannsthal im Libretto für Richard Strauss’ 1911 uraufgeführte Oper „Der Rosenkavalier“. „Wenn man so hinlebt, ist sie rein gar nichts. Aber dann auf einmal, da spürt man nichts als sie. Sie ist um uns herum, sie ist auch in uns drinnen. In den Gesichtern rieselt sie, im Spiegel da rieselt sie, in meinen Schläfen fließt sie. Und zwischen mir und dir da fließt sie wieder, lautlos, wie eine Sanduhr.“

Unser Arbeitsalltag an der HfMDK ist oft von dem Dilemma geprägt, dass wir alles tun, um unserer Kunst eine Entfaltung in der Zeit zu ermöglichen. Gleichzeitig ist unser persönliches Zeitmanagement oft von Verknappung und fehlender Ruhe geprägt. Von den Verlaufsplänen unserer Studiengänge mit ihrem häufig ambitionierten Zeitkorsett, in welchem eine individuelle künstlerische Entfaltung manchmal schwierig erscheint, war schon die Rede; doch auch der Alltag in der Hochschuladministration und -verwaltung ist gelegentlich von der Einsicht geprägt, dass die Überfülle der anstehenden Aufgaben ambitionierter Planung und Koordination nicht immer mit allen Terminkalendern in Einklang zu bringen ist.

Interessant zum Beispiel das Verhältnis der Dauer eines Berufungsverfahrens (ein Jahr) zur eigentlichen Performance entsprechender Bewerber in den Anhörungen (in der Regel wenige Stunden in ein oder zwei Runden) zur Verweildauer des oder der Erstplatzierten an einer Hochschule (in der Regel bis zur Pensionierung). Berufungspolitik ist, neben der Akquise der besten Studierenden und der Konzeption der qualitativ hochwertigsten Studiengänge, eines der drei zentralen inhaltlichen Gestaltungselemente einer Musikhochschule, und die Balance zwischen dem langen konzeptionellen Atem, den ein solches Verfahren erfordert, und der punktgenauen Entscheidung für die richtige Bewerberin bzw. den richtigen Bewerber ist immer eine Herausforderung.

Denn die Neuberufung auf eine Professur bedeutet ja in der Regel einen Berufswechsel. Ich meine dabei nicht so sehr die Verlagerung des künstlerischen Schwerpunktes von der Performance auf die Vermittlung, sondern vor allem das, was in den Ausschreibungen und Berufungsvereinbarungen als „akademische Selbstverwaltung“ bezeichnet wird: Die Befähigung dazu wird, zumindest an unserem Haus, nicht im Berufungsverfahren abgefragt, sie wird auch nicht bei Amtsantritt eingefordert, jedoch auf eine diffuse Art und Weise erwartet, die bei allen Beteiligten zu Frustration führen kann: bei Neuberufenen, weil ihnen eigentlich nicht genau klar ist, was von ihnen erwartet wird; bei Hochschulleitungen, die schnell beklagen, dass das Engagement in der Selbstverwaltung nur ungleichmäßig und sehr unterschiedlich wahrgenommen wird; vor allem aber bei denjenigen, die dann wirklich Funktionsträger als Modulbeauftragte, Ausbildungsdirektoren und Dekane werden und schnell merken, dass die zeitliche Beanspruchung durch diese Funktionen das eigentliche Kerngeschäft, wegen dem man ja ursprünglich mal eine Professur angestrebt hat, an den Rand drängt.

Zurück zum Berufungsverfahren. Eine zusätzliche zeitliche Dimension kann durch Hinzuziehen einer externen Größe entstehen, wie es zum Beispiel bei der Wahl eines Hochschulpräsidenten der Fall ist: Seit Dezember 2016 ist an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Frankfurt am Main ein solcher gewählt, der bereit und motiviert ist, seine Arbeit anzutreten und vom Haus gewollt und erwartet wird. Dass es jetzt an ganz anderer und letztlich unerwarteter Stelle hakt, ist gar nicht so sehr das Entscheidende. Interessanter ist die Frage (vor allem für mich): Was bedeutet es für die Zeitstrukturen einer Hochschule, wenn das, was bisher als Übergangsphase wahrgenommen wurde, sich zu verstetigen droht? Welche Prozesse laufen regulativ weiter, welche werden angehalten?

Zeitzyklen

An einer Musik- und Kunsthochschule nehmen wir also die vielen kleinen und  größeren Zeitzyklen wahr, die die Geschicke unseres Hauses bestimmen: Momentan beispielsweise befinden wir uns in Frankfurt in einer Zeit des Übergangs, in der eine neue Hochschulleitung schon angekündigt, aber noch nicht installiert ist; gleichzeitig hatten und haben wir so viele Verabschiedungen und Neuberufungen unter den Lehrenden wie lange nicht. In einem Jahr wird das Gesicht der Hochschule ein völlig anderes sein als heute, ohne dass sich bestimmte Konstanten in unserem Tageslauf ändern werden. Unser künstlerischer Alltag braucht Zeit: zum Üben, Proben, Organisieren, Kommunizieren; vor allem auch zum Reflektieren, Ausruhen, reifen lassen. Kunst braucht eine Präsenz des Augenblicks, die sich nur einstellt, wenn man dem Augenblick Zeit gibt.
„Die Leute, die niemals Zeit haben, tun am wenigsten“, schrieb schon Georg Christoph Lichtenberg in einer Zeit, die noch kein WhatsApp, keine synchronisierten Kalender und keine modularisierten Studienpläne kannte.

Nehmen wir uns die Zeit, es ist unsere.

Prof. Christopher Brandt, Präsident der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Frankfurt am Main

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