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Titelseite der nmz 2022/10
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Musik ist mehr als ein Katalysator für Teilhabe

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Überlegungen zur Sprachförderung in Integrationsklassen · Von Jürgen Oberschmidt
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Seit Februar 2022 sind rund 180.000 ukrainische Schülerinnen und Schüler in Deutschland angemeldet. An den allgemeinbildenden Schulen werden mehr als 3.000 Lehr- und Hilfskräfte aus der Ukraine beschäftigt. Das ergab eine Umfrage der Deutschen Presse-Agentur bei den Kultus- und Schulministerien der Bundesländer. Was hat das für Folgen für den Unterricht, insbesondere den Musikunterricht? Dieser Leitartikel sowie das Dossier „Ukraine“ versuchen erste Antworten zu geben.

Es gibt wenige Begriffe der Chemie, die es in unsere Alltagssprache gebracht haben. Eine der schillerndsten Metaphern, der man die ursprüngliche Klangfarbe kaum noch anmerken kann, ist die des „Katalysators“: Von Musik als Katalysator des Lernens und der Integration ist dann die Rede, Musik sei gar ein Katalysator sozialer Prozesse. Äußerungen wie „Eine gute Musikstunde vor Mathe wirkt wie ein Katalysator“ machen sich gut im politisch-öffentlichen Diskurs, will man hier doch Transfereffekte betonen, wo doch der Musikunterricht insgesamt unter Legitimationsdruck steht.

Schon der Goethefreund Johann Wolfgang Döbereiner sorgte mit der Entzündung eines Knallgasgemischs durch „bloße Anwesenheit“ von Platin auf seinen Weimarer Salonspektakeln für großes Aufsehen und heute noch beruhigt der Abgaskatalysator das angegriffene Gewissen aller SUV-Fahrer: „Ein Katalysator ist ein Stoff, der die Geschwindigkeit einer chemischen Reaktion erhöht, ohne selbst dabei verbraucht zu werden und ohne die endgültige Lage des thermodynamischen Gleichgewichts dieser Reaktion zu verändern.“ So lautet die bis heute gebräuchliche Definition des Begriffs vom Leipziger Physiko-Chemiker Wilhelm Ostwald.

Übertragen auf die Musik bedeutet das: Mit Musik als Beschleuniger geht alles besser, ohne solche funktioniert es dann eben etwas langsamer. Wen wundert es da, wenn man die Metiergeheimnisse der deutschen Chemiefabriken, mit denen sich einst schon so erfolgreich klopffeste Flugbenzine für die deutsche Luftwaffe herstellen ließen, auf Lehr-Lernprozesse anwendet, um die Fähigkeiten menschlicher Akteure durch die Beherrschung katalysatorischer Techniken zu steigern? Von solch einem Katalysator, der verursacht, der sich verzwecklichen lässt, ohne selbst Arbeit zu leisten und der keinerlei chemische Verbindung mit dem eigentlichen Lernstoff eingeht, ist die Rede, wenn die Musikstunde vor dem Mathematikunterricht stattfindet, aber auch, wenn Lieder instrumentalisiert werden, um das Einmaleins zu lernen oder sich Vokabeln einer fremden Sprache anzueignen. Solche Ansätze bleiben dann Modelle des guten Willens, wie wir sie aus Fächerverbünden kennen, wenn ein Regenlied gesungen wird, um dann über die Wolkenbildung zu sprechen und jedem klar wird, wer hier Knecht und wer Herr im Haus ist.

Solch eine Sprachförderung mit Musik bliebe ein Sprachunterricht, ohne einen ganzheitlichen Bildungsauftrag und ohne Anspruch, den Anforderungen musikalisch-ästhetischen Lernens nachzukommen. Mit Musik geht die Sprache schneller ins Ohr, sie verändert aber die Menschen nicht, nimmt einzig einen zweckorientierten Platz ein, um sich auf diese Weise in die Praktiken, Gewohnheiten und reibungslosen Abläufe unseres Alltags einzufügen.

Sollte es nicht Aufgabe der Kunst sein, Reibung zu verursachen, um sich gegen die glattgehobelten Abläufe zu stellen? Besteht nicht gerade die Spezifik ästhetischer Erfahrungen darin, Prozesse nicht zu beschleunigen, sondern sie aufzuhalten? Wer ankommt, muss zunächst einmal innehalten und braucht solche Plateaus, die Christoph Menke in seiner Schrift „Die Souveränität der Kunst“ als Prozesse der „Desautomatisierung“ bezeichnet. Kunst sei nicht die Verwirklichung eines Zwecks, sondern Ausdruck von Kraft, schreibt er an anderer Stelle. Sie kann aber eine solche Kraft nur entfalten, wenn sie kein Katalysator bleibt, sondern eine Verbindung mit allem Stofflichen eingeht.

Von solch einer „bloßen“ Katalysatorfunktion darf bei den hier beschriebenen und umgesetzten Konzepten zum Unterricht in einer Integrationsklasse nicht die Rede sein. Hier wird Musik Ausdruck von Kraft, schenkt uns einen ganz anderen Schlüssel: Gerade für Menschen, die gedanklich immer noch im Kriegsgebiet leben, gilt es nicht nur, auf zweckorientierte Weise eine neue Sprache zu lernen, sondern eben auch darum, ästhetisch unterbrochen zu werden, Gutes zu erfahren, sich im Musizieren zu erleben und über die Musik zu verständigen. Wie es gelingt, Anknüpfungspunkte über ein gemeinsam erlebtes kulturelles Erbe zu finden, wird in dem Text beschrieben. Für junge Menschen, die mit Geigenkasten, mit Mozart oder Beethoven im Gepäck anreisen, fällt es leicht, Brücken zu bauen, wenn sich das gehörte Для Елізи in „Für Elise“ übersetzen lässt. Wir dürfen aber auch zur Genüge feststellen, wie viele von uns es bis heute nicht akzeptieren möchten, dass wir in einer Einwanderungsgesellschaft leben, deren kulturelle Vielfalt sich noch nicht in der gebotenen Weise in der Vielheit ihrer musikalischen Praxen widerspiegelt. Das gilt ganz gewiss für die oft einseitigen Dressuren an den allgemein bildenden Schulen, das gilt aber auch für unser gesamtes Musikleben, wo man sich gerne mit exotischem Alibidekor schmückt, das dann auf Festivals feilgeboten wird, um die Betriebsamkeiten der Hochkultur nicht zu stören.

Diese kritischen Anmerkungen, die den Unterricht in einer Integrationsklasse zum Anlass nehmen, über das hier erlebte Geschehen hinauszublicken, sollten nun aber weder dazu verführen, sich von einem einseitigen Verständnis ästhetischer Autonomie zu verabschieden, noch dazu anhalten, Musik ausschließlich im Rekurs auf unsere Alltagspraxen zu betrachten. Musik lebt eben in einer nicht aufzulösenden Ambivalenz und bereichert das menschliche Leben gerade durch ihre geheimnisvolle Existenz in den Zwischenräumen: Sie geht weder auf im L’art-pour-l’art-Gedanken, der sich vom alltäglichen Leben abgrenzt, noch lässt sie sich in eine zweckbetriebliche Katalysatorfunktion fassen. In seiner ästhetischen Theorie betont Adorno diesen Doppelcharakter der Kunst, die zugleich „autonom und fait social“ sei. Musik als ein bloßer Beschleuniger eines ohnehin stattfindenden Prozesses weist weder in die eine noch in die andere Richtung.

Gerade mit Blick auf unsere augenblicklichen Krisensituationen ist nun zu fragen, ob unser Bildungssys­tem nicht mehr und geeignetere Räume für Resonanzerfahrungen, für ein Hören und Antworten, bereitstellen sollte. Dass es bereits hier beim Zuhören scheitern kann, erleben wir in den täglichen Konfrontationen, im Kleinen wie im Großen. Unsere Welt ist geprägt von einer Subjekt-Objekt-Dichotomie, die immerzu zwischen Tätern und Opfern, zwischen Gut und Böse unterscheiden möchte und so jeden Dialog verhindert. Musik kann diese Grenzen aufheben. Musik erleben wir in der Gemeinschaft, sie ist ein Teil von uns, aber auch ein Teil jener Welt, die uns umgibt, schon als Hörer nehmen wir aktiv teil am Geschehen. Wenn wir es nur zulassen, kann Musik uns jene Form der Weltbeziehung schenken, die dominante Steigerungslogiken ersetzen möchte. Wir sollten uns also hüten, Musik als Ressource zu instrumentalisieren, um noch glücklicher, noch erfolgreicher und effizienter durchs Leben zu gehen. Das gilt nicht nur in der allgemeinbildenden Schule, das gilt auch für manche Kaderschmieden einer professionellen Ausbildung, wo Anpassungsdruck und Eigenblutdoping des Systems keinen Raum mehr zulassen, eine eigene Stimme zu finden. Wenn wir uns fragen, welches Leben wir selbst und die uns anvertrauten Schülerinnen und Schüler führen sollten, dann muss es uns darum gehen, jedem die Möglichkeit zu geben, Musik in solch einer bereichernden Weise erleben zu dürfen. Mit weniger sollten wir uns nicht zufriedengeben.

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