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Sigune von Osten. Foto: Jörg Lohner
Sigune von Osten. Foto: Jörg Lohner
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Nachrufe 2021/09

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Sigune von Osten, Louis Andriessen, Hermann J. Kaiser, R. Murray Schafer
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Blühender Park der Gegenwartsmusik: Sigune von Osten +++ Der widerborstige Minimalist: Louis Andriessen +++ Wirkungsmächtiger Lehrer: Hermann J. Kaiser +++ Der visionäre Klangökologe: R. Murray Schafer

Blühender Park der Gegenwartsmusik
Zum Tod der Sängerin, Festivalmacherin und Neue-Musik-Muse Sigune von Osten

Neben Konzerttourneen auf der ganzen Welt hatte sich Sigune von Osten seit den 90er Jahren als Festspielleiterin einen Namen gemacht – und fast 25 Jahre lang ihr eigenes Festival „PARKMUSIK“ auf dem Trombacher Hof bei Bad Kreuznach geleitet. Auf dem Trombacher Hof starb sie am 8. Juli 2021.

Einen ausführlichen Nachruf von Silke Egeler-Wittmann finden Sie auf www.nmz.de. „Ich möchte nicht schocken, sondern locken“, wird Sigune von Osten dort zitiert. „Ich möchte Menschen zu Neuer Musik verführen“. Es war ihr ein Anliegen, sich umfassend um ihr Publikum zu kümmern, es vom Parkplatz bis zu den Spielorten in und um den Trombacher Hof zu geleiten. Schon der Weg durch die Wiesen oder den Wald war bestückt mit bildender Kunst, mit Performances von Tänzern und Musikern, die wie aus dem Nichts auftauchten. Im engen künstlerischen Austausch und freundschaftlich verbunden war sie neben vielen anderen besonders mit Giacinto Scelsi,  Marek Kopelent, Luigi Nono und Olivier Messiaen, der sie einmal als seine Lieblingssängerin bezeichnete und dessen Werk sie vielfach aufführte und auf Tonträgern veröffentlichte. Besonders die Zusammenarbeit mit John Cage und die Auseinandersetzung mit seinen Arbeiten hat Sigune von Osten künstlerisch maßgeblich geprägt. Das Gesangs-Solostück „Aria“ wurde für sie zum Schlüsselerlebnis und war zugleich Ausgangspunkt ihrer internationalen Karriere.“

Wie von ihr gewünscht hat das Festival Parkmusik 2021 am letzten August­wochenende auf dem Trombacher Hof stattgefunden.

 

Der widerborstige Minimalist
Zum Tod des niederländischen Komponisten Louis Andriessen

In klassischen Konzerten langweilte er sich als Teenager. Spannender fand der junge Louis Andriessen die Jazzplatten, die sein älterer Bruder Jurriaan aus den USA mitbrachte. Die Musik, die er nach Studien in Den Haag (bei seinem Vater Hendrik), Mailand (Luciano Berio) und Berlin schrieb, war dann vielfach von einer pulsierenden Rhythmik geprägt, in der aber ebenso der direkte Einfluss von Strawinskys „Sacre“ spürbar wurde. Auf die Jazz-Sozialisation geht außerdem Andriessens besonderer Umgang mit Bläsertimbres zurück. Die rauhe Beschaffenheit der Instrumentierungen (oft mit Klavier und Bassgitarre) verlieh seiner Spielart der Minimal Music zusammen mit der metrischen Schroffheit einen von seinen amerikanischen Zeitgenossen signifikant unterschiedenen, die Sinne widerbors­tig schärfenden Charakter („Hoketus“, „De Staat“). Dieser war auch vielen explizit politischen Werken zu eigen, die Andriessen ab Ende der 1960er-Jahre schrieb, angefangen mit der Kollektivoper „Reconstructie“ der für ihre Störaktion im Concertgebouw berühmt gewordenen „Notenkraker“ oder „Workers Union“, dessen Besetzung er mit „for any loud sounding group of instruments“ angab.

Einen großen Raum in seinem umfangreichen Schaffen nahmen Bühnenwerke ein, für die er unter anderem mit dem englischen Filmemacher Peter Greenaway zusammenarbeitete („Rosa“, „Writing to Vermeer“).

Am 1. Juli ist Louis Andriessen im Alter von 82 Jahren bei Amsterdam verstorben. jmk

 

Wirkungsmächtiger Lehrer
Zum Tod des Musikpädagogen und Komponisten Hermann J. Kaiser

Ein Nachruf von Jürgen Vogt

Am 4. August 2021 ist Prof. Dr. Hermann J. Kaiser im Alter von 83 Jahren verstorben.

Hermann J. Kaiser studierte Komposition, Schulmusik, Philosophie, Erziehungswissenschaft, Musikwissenschaft und Germanistik in Bonn und Köln. 1963-1966 lebte er als freier Komponist in Schweden. Nach Schuldienst und Promotion 1969 (in Philosophie) war er bis 1971 Assistent am Institut für Erziehungswissenschaft der Universität Bonn. 1972-1973 war er Professor für Wissenschaftstheorie und Empirische Verfahren an der Universität Münster, dann von 1973-1976 Professor für Erziehungswissenschaft an der Hochschule der Künste Berlin. 1976 wurde er auf eine Professur für Musikpädagogik an der Universität Münster berufen, bevor er 1988 an der Universität Hamburg bis zu seiner Emeritierung 2003 eine Professur für Erziehungswissenschaft unter besonderer Berücksichtigung der Musikpädagogik innehatte.

Hermann J. Kaiser nahm in der deutschen Musikpädagogik eine einzigartige Position ein, die nicht zuletzt durch seine Herkunft aus der Philosophie und der Allgemeinen Erziehungswissenschaft geprägt war; im anglophonen Sprachraum würde man ihn als herausragenden Vertreter einer „Philosophy of Music Education“ bezeichnen. Die zusammen mit E. Nolte verfasste Musikdidaktik von 1989 ist bis heute ein Standardwerk geblieben. Hermann J. Kaisers zahlreichen Studien zur Musikpädagogik als Wissenschaft, zum Musik-Lernen oder zur musikalischen Erfahrung – um nur einige Themen zu nennen – wurden in Auswahl 2018 als Gesammelte Aufsätze publiziert. Im selben Jahr erhielt er die Ehrendoktorwürde der Hochschule für Musik, Theater und Medien in Hannover. In den 1990er Jahren war er aktives Mitglied im DFG-Graduiertenkolleg „Ästhetische Bildung“ an der Fakultät für Erziehungswissenschaft. Innerhalb und außerhalb des Graduiertenkollegs entstand um Hermann J. Kaiser herum so etwas wie eine „Hamburger Schule“ der Musikpädagogik, die weniger thematisch, als vielmehr durch den intellektuellen Anspruch ihrer Arbeiten gekennzeichnet werden kann – nicht wenige ihrer Angehörigen wurden auf Professuren berufen.

Auch nach seiner Emeritierung blieb Hermann J. Kaiser publizistisch, sowie im „Arbeitskreis musikpädagogische Forschung“ (AMPF) und in der von ihm mitbegründeten „Wissenschaftlichen Sozietät Musikpädagogik“ (WSMP) aktiv. Noch 2018 war er als unverzichtbarer Autor im neuen Handbuch der Musikpädagogik vertreten. Kennzeichnend für das Arbeiten Hermann J. Kaisers war seine anhaltende Neugierde; an einem abgeschlossenen „Werk“ hatte er kein Interesse. Dies machte ihn bis zuletzt zu einem gefragten Gesprächspartner, gerade auch für musikpädagogische Nachwuchswissenschaftler:innen. Noch auf dem Krankenbett las er, der eingefleischte Kantianer, auf einmal Hegel, mit dem er zuvor wohl nur wenig anfangen konnte.

Hermann J. Kaiser vertrat in seiner Person ganz selbstverständlich eine Verbindung von Philosophie, Allgemeiner Erziehungswissenschaft und Musikpädagogik, die für das „Hamburger Modell“ paradigmatisch war. Schon deswegen ist sein Verlust unersetzlich.

 

Der visionäre Klangökologe
Zum Tod des kanadischen Komponisten R. Murray Schafer

Soundscapes – Klanglandschaften: So selbstverständlich einem diese Wortschöpfungen heute über die Lippen oder in die Tastatur kommen, so bahnbrechend war das zugrunde liegende Konzept zu ihrer Entstehungszeit. Erdacht hat es in den 1970er-Jahren der kanadische Komponist und Autor Raymond Murray Schafer, für den eine weitere Berufsbezeichnung quasi neu erfunden werden musste: Klangforscher. Denn seine Beschäftigung mit Aufnahmen von Klangumgebungen ging über das Sammeln und Dokumentieren weit hinaus: Er war davon überzeugt, dass die akus–tische Umwelt die Wahrnehmunsfähigkeit und -willigkeit entscheidend beeinflusst und verstand sich deshalb auch als Aktivist gegen Lärmverschmutzung. Publizistischen Ausdruck fanden seine Überzeugungen unter anderem in den unter dem Namen „Ear cleaning“ („Schule des Hörens“) erschienenen Übungen zur Gehörreinigung und in seinem Hauptwerk „The Tuning of the World – The Soundscape“ („Die Ordnung der Klänge“). Seine kompositorisch-künstlerische Vision äußerte sich in Hörstücken wie dem mit dem Karl-Sczuka-Preis ausgezeichneten „Winter Diary“, in Freiluftkompositionen, aber auch in Streichquartetten und dem umfangreichen Musiktheater-Zyklus „Patria“.

Am 14. August ist R. Murray Schafer im Alter von 88 Jahren bei Peterborough (Ontario) verstorben. jmk

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