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Parade der Dirigentenlegenden

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Ein Orchesterjubiläum und Taktstock-Virtuosen auf CD
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Zu seinem hundertjährigen Bestehen präsentiert sich das Königlich-Philharmonische Orchester Stockholm in Zusammenarbeit mit der Londoner Agentur IMG (die auch für EMI die Great Conductors- und die historische DVD-Serie produziert) auf einer sehr schmucken 8-CD-Box unter der Leitung der versammelten dirigentischen Prominenz von 1934 bis 1978. Die Werkauswahl dürfte weitgehend vom Orchester selbst vorgenommen worden sein und könnte origineller sein. Die Einführungstexte sind eher routiniert als inspiriert. Die tonliche Aufbereitung ist exzellent.

Zu den Highlights gehören natürlich Wilhelm Furtwänglers himmelstürmend verinnerlichte, hingebungsvoll riskante Beethoven-Darbietungen (8. Symphonie und 3. Leonore-Ouverture), aber auch Richard Strauss’ vier letzte Lieder mit Sena Jurinac (mit schwereloser Intensität des Ausdrucks), drei Sätze aus Respighis erster „Antiche Danze“-Suite unter Monteux (unprätentiöse Pracht und liebliche Unschuld) oder Hugo Alfvéns zauberisch-verwunschene „Schärenlegende“ op. 20 unter Herbert Blomstedt, der hier einmal ganz von seiner klangsinnlichen, lyrischen Seite zu erleben ist.

Musikantisch schwungvolle Darbietungen von Brahms’ Haydn-Variationen unter Constantin Silvestri oder Dvoráks 6. Symphonie unter Dorati, exegetische Energetik unter Klemperer (Brahms’ 4.) oder Fricsay (Tschaikowskys 5.), naive Unmittelbarkeit der Empfindung bei Kubelík (Faurés Requiem), gestalterische Eleganz unter Schmidt-Isserstedt (Wagners Siegfried-Idyll), Kempe (Bruckners 7.) oder Roshdestvensky (Aubers Gustav III.-Ouverture) seien hervorgehoben, ebenso die auf unterschiedlichste Weise fesselnden Dirigate von Stokowski (in seiner fulminanten Fassung der – nicht von Bachs Hand stammenden! – Toccata und Fuge d-moll), Bruno Walter (Mozarts späte Es-Dur-Symphonie) und Toscanini (Tristan-Vorspiel und Liebestod mit hohem Geräuschanteil). Berwalds „Sinfonie singulière“ unter Markevitch ist sehr gediegen, kann jedoch beispielsweise den fantastischen Celibidache-Aufführungen mit dem konkurrierenden Schwedischen RSO natürlich nicht das Wasser reichen. Das Berg-Violinkonzert mit dem Solisten Louis Krasner bleibt weiter unter Anton Weberns Leitung Referenz (Testament SBT 1004), hier unter Fritz Busch schlüpft es in fast fünf Minuten weniger vorüber. Eine grobe Enttäuschung ist Schönbergs Erste Kammersymphonie unter Horenstein. In Prokofieffs Fünfter ist Paul Kletzki wieder einmal der beherzte Animateur mit Mängeln in Aufbau und Kontrolle. Kertész Dvorák ist nur pauschal schwungvoll, Krips’ Oberon-Ouverture sehr gut, aber bieder, Tor Manns „Sibelius“ und Sixten Ehrlings „Don Juan“ von Strauss betont kantig, Giulinis „Wilhelm-Tell-Ouverture“ (1960) knackig virtuos. Der absolute Trumpf unter den Erstveröffentlichungen ist für mich Victor de Sabatas brillant vielgestaltig funkelnder, grandios inszenierter „Chant du rossignol“ von Strawinsky. Für den Sammler wiederholt sich in diesem Paket manches, anderes ist auch für ihn unverzichtbar.

Nach und nach erlangen die Tondokumente des 1956 36-jährig bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommenen italienischen Dirigenten Guido Cantelli – jenes Mannes, in den der greise Arturo Toscanini seine ganze Hoffnung gesetzt hatte – „public domain“-Status und nun sind innerhalb kürzester Zeit bei zwei Firmen 21 CDs in drei Boxen mit Rundfunkkonzerten von Toscaninis New Yorker NBC Orchestra unter Cantelli erschienen. Insgesamt ist zu resümieren, dass Cantelli in der relativen Geradlinigkeit, hohen Präzision und klanglichen Trennschärfe deutlich von Toscanini beeinflusst, jedoch eine stärkere Neigung zu lyrischer Innigkeit und Zartheit versprühte – was wohl hätte daraus wachsen können? Ich möchte weniges Typische herausgreifen: schneidig direkter Bartók, Hindemith und Dallapiccola, klar pulsierende, vorwärts drängende Klassiker, wuchtig-herbe Romantiker, pathetisches Barock. Die bekenntnishaft klassizistische Musik „romantischen“ Ursprungs seines Lehrers Giorgio Federico Ghedini (in diesem Fall das wunderschöne, kraftvoll konturierte Pezzo Concertante für zwei Geigen, Bratsche und Orchester) und Ghedinis stilbewusst farbige Frescobaldi-Orchestrationen erfreuten sich der besonders herzlichen Zuneigung des jungen Maestro und seien dem heutigen Hörer in ihrem herrlich zeitlosen „Anachronismus“ uneingeschränkt ans Herz gelegt.

In der Serie Original Masters präsentiert Universal Classics viele Deutsche Grammophon-, Decca- und Westminster-Plattenaufnahmen, die bislang nicht den Weg auf die CD gefunden hatten. Eine sehr positive Überraschung gerade auch für diejenigen, die sein eckiges, expressionistisch aufgeladenes, anti-musikantisches Naturell nicht mögen, bieten die Haydn-Aufnahmen Hermann Scherchens aus den fünfziger Jahren. Dieser Mann bleibt zweifellos ein leuchtendes Beispiel, was etwa seine Winterthurer Konzertdramaturgie betrifft oder sein fanatisches Eintreten für die neuere, auch unbekannt gebliebene Musik. Sein Mangel an Eleganz, Fluss und Einfühlung hingegen war eklatant. Doch hier, bei Haydn, ist vieles erstaunlich filigran, weitgesponnen, großzügig im guten Sinne – und vieles natürlich auch nicht, aber doch in seinem Individualismus weit aufragend gegenüber der Nivellierung der so genannten „historischen Aufführungspraxis“ von heute. Paul Hindemith als Dirigent war kein Vorteil für irgendwelche Musik, auch nicht für seine eigene. Man sieht, wie höchste musikalische Qualifikation, hehres Ethos und Liebe zur Sache nicht hinreichen, wenn die Vermittlung trocken und ohne Fähigkeit zur Transzendenz des Materials bleibt. Eine tragische Kraftvergeudung, die seine Musik vierschrötig und bloß kunsthandwerklich auftreten lässt, was ihr unter berufenen Händen nicht anhaftet. Als Scheitern sehr aufschlussreich und in der „Authentizität“ ein desaströses Vorbild. Igor Markevitch, Verfechter einer objektivierenden, der vermeintlichen „Romantik“ entgegengesetzten Musizierhaltung, ist überwiegend mit Standardrepertoire vertreten, stets auf dezidiertem Niveau mit „strukturellem Überblick“ – wozu es nicht kommt, ist das Loslassen. Als Rarität ist Charles Gounods 2. Symphonie zu hören, in einer viel höheren als der üblichen Raritäten-Liga. Fesselnder ist die ebenso umfangreiche Ferenc-Fricsay-Kollektion, welche auch sein credohaftes Selbstporträt „Erzähltes Leben“, eine sehr bewegende „Pathétique“ von Tschaikowsky und die sehr deutungsintensive, hochkarätige späte Aufnahme von Haydns Jahreszeiten (mit Maria Stader, Ernst Haefliger und Josef Greindl) enthält. Besondere Highlights: die teils seltenen Werke für Klavier und Orchester mit Margrit Weber, Respighis Zauberladen nach Rossini, Hindemiths Symphonische Tänze (man vergleiche mit des Komponisten eigener Version!), Frank Martins gestaltenreiche Petite Symphonie Concertante und – dies vielleicht der Höhepunkt in der Diskographie dieses Komponisten überhaupt – Karl Amadeus Hartmanns 6. Symphonie. Ein imponierender Beherrscher des Orchesters, rundum eine wahrlich lohnende Sache. Für mich freilich wird das alles weit übertroffen von Leopold Stokowski. Was er anfasste, wurde zum magischen, unverwechselbar mannigfaltig strahlenden Gegenstand, seien es Elgars Enigma-Variationen, Tschaikowskys 5. oder Francks d-moll-Symphonie, Scriabins „Poème de l’extase“, Berlioz, Ravel, Debussy, Messiaens „L’Ascension“ oder seine fantastischen Orchester-Transkriptionen (eben hat Oliver Knussen für DG seine Mussorgsky-Bearbeitungen neu eingespielt). Suggestiver kann der Hörer nicht gepackt werden. Dies setzt lediglich voraus, dass er keine Scheu hat: All you need is – devotion.

Diskografie

Royal Stockholm Philharmonic Orchestra – Great Recordings from the Archives; mit den Dirigenten Stokowski, Fr. Busch, Toscanini, Br. Walter, Furtwängler, de Sabata, Klemperer, Schmidt-Isserstedt, T. Mann, Giulini, Fricsay, Horenstein, Krips, Silvestri, Monteux, Kubelík, Kletzki, Blomstedt, Kertesz, Ehrling, Kempe, Roshdestvensky, Dorati, Markevitch
RSPO 1007/8
www.konserthuset.se

Guido Cantelli dirigiert das NBC Symphony Orchestra: Broadcasts 1949/50; Händel, Bach, Tschaikowsky, Haydn, Strawinsky, Wagner, Mozart, Hindemith, Frescobaldi/Ghedini, Beethoven (SBT4 1306); Rossini, Mozart, W. Schuman, Milhaud, Dallapiccola, Verdi, Haydn, Vivaldi, Busoni, Beethoven, Corelli, Monteverdi, Geminiani/Marinuzzi (SBT4 1317)
Zwei 4-CD-Boxen von Testament/
Note 1

The Art of Guido Cantelli: New York (NBC) Concerts and Broadcasts 1949–52; Rossini, Bartók, Schubert, Mozart, Mendelssohn, Ravel, Brahms, Beethoven, Haydn, Monteverdi, Strawinsky, Roussel, Vivaldi, Tschaikowsky, Ghedini, Mussorgsky/Ravel, Frescobaldi/Ghedini, Shulman, Dvorák (Klavierkonzert mit R. Firkusny), Debussy, Schumann
Music & Arts 1056 (10 CDs/Note 1)

Hermann Scherchen dirigiert Joseph Haydn: Symphonien Nr. 44, 45, 49, 55, 80, 88, 92-104; Wiener Staatsopern-Orch., Wiener Symphoniker
DG 471 256-2 (6 CDs/Universal)

Hindemith dirigiert Hindemith: Konzert für Orch., Konzertmusik op. 49 (Monique Haas, Klavier), Sinfonie „Mathis der Maler“, Symphon. Tänze, Die vier Temperamente (Hans Otte, Klavier), Sinfonische Metamorphosen, „Amor und Psyche“-Ouvert., Sinfonie „Die Harmonie der Welt“, Interview mit Hindemith; Berliner Philharmoniker
Deutsche Grammophon DG 474 770-2 (3 CDs/Universal)

Igor Markevitch dirigiert: Mozart, Gluck, Haydn, Cimarosa, Schubert, Beethoven, Brahms, Kodály, Wagner, Gounod, Bizet, Debussy, Tschaikowsky, Interview mit IM; Berliner Philh. etc.
Deutsche Grammophon DG 474 400-2 (9 CDs/Universal)

Ferenc Fricsay dirigiert: Beethoven, Mendelssohn, Prokofieff, Mahler, Tschaikowsky, Rossini/Respighi, Rimsky-Korsakov, Joh. & Jos. Strauß, von Einem, Hindemith, K.A. Hartmann, F. Martin, Haydn (Jahreszeiten); konzertante Werke mit Margrit Weber am Klavier von de Falla, Françaix, Honegger, Franck, Rachmaninov und Fricsay, „Erzähltes Leben“; RSO Berlin, RIAS-SO, Berliner Philh.
Deutsche Grammophon DG 474 383-2 (9 CDs/Universal)

Leopold Stokowski dirigiert: Tschaikowsky, Scriabin, Franck, Elgar, Berlioz, Ravel, Strawinsky, Debussy, Messiaen, Stokowski-Arrangements von Werken von Bach, Byrd, Clarke, Schubert, Chopin, Tschaikowsky, Duparc, Rachmaninov, Debussy; Tschech. Philharmonie, London Symph. Orch. etc.
Decca 475 145-2 (5 CDs/Universal)

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