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Peter Handke lauscht Mozart, Madonna und Grillen: eine Anthologie seiner Versuche über Musik

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Peter Handke: Über Musik, mit Illustrationen von Amina Handke, hg. und mit einem Nachwort von Gerhard Melzer (Libell 4), Literaturverlag Droschl, Graz/Wien 2003, 102 S., € 31,00, ISBN 3-85420-623-2

Wo die Worte enden, da beginnt Musik – das besagt ein von Musikern gern gehörtes Klischee. Doch auch der umgekehrte Weg wurde seit der Romantik oft beschritten: Das „Unsagbare“ kommt zur Sprache. Kein Wunder, dass das jüngste Beispiel „musikalischer Poesie“ von Peter Handke stammt, dem Mystiker unter den modernen Autoren.

Musik und Klang sind seit jeher Mittel seiner poetischen Wahrnehmung der Welt, für die der 61-Jährige am 28. September den erstmals vergebenen Siegfried-Unseld-Preis erhält. Eine Anthologie dokumentiert nun die musikalischen Reflexionen des Dichters – von der legendären „Publikumsbeschimpfung“ (1966) bis hin zu seinem zivilisationskritischen Roman „Bildverlust“ (2002).

Nicht nur die Sprache, auch das Hören erschließt die Welt. So möchte der Herausgeber Gerhard Melzer die Beziehung des Dichters zu Musik und Klang verstanden wissen. Die Zusammenstellung von Handkes akustischen Assoziationen zeigt den Dichter als Virtuosen des beredten Hörens. Sein Medium ist nicht nur die Stille, sondern auch die ebenso häufig beschworene Jukebox – Handkes musikalische Welt umfasst Klang und Krach, Mozart, Madonna und das Zirpen der Grillen. In Handkes Ohren sind kirchliche Litaneien und die Chöre der Fußballfans gleichermaßen bedeutsam. So hieße der Band besser „Über das Hören“. Doch auch Offenbarungen über Musik im engeren Sinne darf der Leser lauschen.

Die scheinbar schönste lautet: „Die Musik, selbst die zarteste, empfinde ich oft als eine ungehörige Übersetzung oder gar Überschreitung oder gar Verdrängung der Stille.“ Das klingt wie ein romantischer Aphorismus, ist aber auch Ausdruck eines „Zwiespalts“ im Klangerleben des Schriftstellers. Die „nichts und alles bedeutende“ Musik kann nicht nur „Himmelsleiter“ sein wie das Grillenkonzert (wohl Handkes Lieblingsmusik), sondern auch „Idiotenmusik“ (wie Tschaikowskis „capriccio italien“). Noch schlimmer – auch verlogene Musik wird zitiert: In „Mein Jahr in der Niemandsbucht“ entpuppt sich der Tenorsolist des Kirchenchors, der dem Erzähler-Ich im Kindesalter Wonnen der Ergriffenheit, aber auch Momente peinlicher Beklemmung bescherte, als einstiger „Herold Großdeutschlands“ – Musik als Heuchelei?
In Handkes Verhältnis zur Musik scheint das „Missbehagen“ die Behaglichkeit zu überwiegen. Selbst der Vogelgesang könne so „tagtraumzerstörerisch“ wirken wie das Klingeln des Telefons. Die „Musik der Sphären“ schreibt der hellhörige Dichter daher lieber selber: In Handkes Werk klingt das nach „Kindheitssummen“, aber auch nach dem „Tönen der Sterbestunde“. Sein musikalisches Brevier zeigt ihn somit als den Letzten aller Spätromantiker: Die Welt ist ihm ein unendlicher Klang „aus der Ferne“, der vielleicht bedeutet, man werde „nie mehr heimkehren“.

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