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Peter und die namenlosen Wölfe

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25. Sommerkurs Centre Acanthes in Villeneuve-lez-Avignon
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„Acanthe“ ist der Bärenklau, ein auch unter Franzosen nicht sehr geläufiges Wort. Im Lexikon steht es gleich hinter „académie“ und „Acadie“. Als 1978, im zweiten Jahr des Sommerkurses, damals noch in Aix-en-Provence, ein neuer Name gesucht wurde – Stockhausen hatte im Gründungsjahr 1977 mit etwas zuviel persönlichem Stallgeruch vom „Centre Sirius“ gesprochen – ließ sich der eingeladene Composer in Residence Iannis Xenakis kurzerhand das Wörterbuch reichen. Bei „acanthe“ blieb der Finger stehen („Klingt hinreichend ungewöhnlich, auch ein bisschen griechisch“) und der Kurs für junge Komponisten und Interpreten der neuen Musik hatte seinen Namen.

„Acanthe“ ist der Bärenklau, ein auch unter Franzosen nicht sehr geläufiges Wort. Im Lexikon steht es gleich hinter „académie“ und „Acadie“. Als 1978, im zweiten Jahr des Sommerkurses, damals noch in Aix-en-Provence, ein neuer Name gesucht wurde – Stockhausen hatte im Gründungsjahr 1977 mit etwas zuviel persönlichem Stallgeruch vom „Centre Sirius“ gesprochen – ließ sich der eingeladene Composer in Residence Iannis Xenakis kurzerhand das Wörterbuch reichen. Bei „acanthe“ blieb der Finger stehen („Klingt hinreichend ungewöhnlich, auch ein bisschen griechisch“) und der Kurs für junge Komponisten und Interpreten der neuen Musik hatte seinen Namen.Bespielt wird seit 1987 die Chartreuse von Villeneuve-lez-Avignon, eine behutsam restaurier- te Sonne und Mistral abschirmende päpstliche Kartause aus dem vierzehnten Jahrhundert. Dass sich Künstler gerade solche Orte wählen, ist sicherlich kein Zufall, ist doch das Moment der Andacht nach dem Untergang des religiösen Lebens in der Kunst wiederauferstanden. Nachdrücklich betonte denn auch der in diesem Jahr als Kursleiter eingeladene ungarische Dirigent und Komponist Peter Eötvös, wie gerade seine Musik aus der Stille hervorwächst, wie sie mit der Stille, mit dem Raum kommuniziert.

Im Windschatten des brummenden Festivaltourismus auf der gegenüber liegenden Rhoneseite trieb das der Kunstpflege gewidmete, vergleichsweise beschauliche Treffen in der Chartreuse reichlich Knospen aus. Darunter sind die wilden Pflanzen am wenigsten bekömmlich, auch wenn sie in der Regel prächtig dastehen und weit leuchten. Wie eben der Bärenklau, der zur 25. Ausgabe dieser provencalischen Studierstube der zeitgenössischen Musik seinem Namen alle Ehre machte. Vergleichbar den schon längere Zeit zum Effektreservoir neuer Musik gehörenden Kratzgeräuschen hinter dem Steg, formulierte auch der diesjährige Sommerkurs einen Subtext zum offiziellen Kursgeschehen. Dessen Programm orientierte sich am ungarischen Kulturhalbjahr „MAGYart“, das noch bis Dezember die Interessierten in ganz Frankreich anspricht. Passend dazu entschied sich Claude Samuel, der Leiter des Centre Acanthes, 2001 die ungarische Moderne von Bartók bis zur Gegenwart zum Thema zu machen.

Dazu steuerte das Arditti-Quartett zwei Konzerte bei (Bartók, Ligeti und Kurtág sowie Eötvös’ „Korrespondenz“) und zu Ehren des verstorbenen Xenakis, gemeinsam mit dem Pianisten Claude Helffer ein eigenes Hommage-Konzert. Als Interpreten und Dozenten standen zur Verfügung das Pianisten-Gespann Pierre-Laurent Aimard/Florent Boffard, der Schweizer Cellist Walter Grimmer sowie zum zweiten Mal die agile amerikanische Flötistin und Stockhausen-Interpretin Camilla Hoitenga. Den Analysepart übernahmen Zoltán Farkas und die WDR-Fernsehmusikredakteurin Gabriele Faust. Den orchestralen Rückhalt schließlich für die beiden Ateliers aus fünf in Vorauswahl bestimmten dirigierenden Komponisten und acht jungen Nur-Dirigenten bildeten das „Orchestre Lyrique de la Région Avignon-Provence“ sowie das erst 1997 gegründete Budapester Spitzenensemble UMZE.

Zusammen mit 161 Kursteilnehmern aus 37 Ländern formierte sich so ein imponierender Apparat, der von Peter Eötvös in unauffälliger, wenn auch stets präsenter Weise gesteuert wurde. Eötvös komplettierte seine Mannschaft mit dem jungen ungarischen Komponisten Balázs Horvath (geb. 1976) und dem Auch-Dirigenten Gergely Vajda (geb. 1973) sowie mit zwei Komponisten der mittleren und älteren Generation: Laszló Tihanyi (geb. 1956) sowie Zoltán Jeney (geb. 1943). Damit hatte sich die zeitgenössische ungarische Musik – von exterritorialen Größen wie Ligeti und Kurtág einmal abgesehen – tatsächlich für zwei Wochen im Herzen der Provence versammelt. Dabei geriet die Aufführung von Eötvös’ „Shadows“ unter der Leitung des Komponisten zum konzertanten Höhepunkt des Kurses. Die Beiträge der vier andern Ungarn ebenso wie das Sonderkonzert der UMZE-Soloflötisten Gergeley Ittzés und Zoltán Gyöngyössy hinterließen eher den Eindruck, dass die neue ungarische Musik einen Punkt erreicht hat, wo ihr wirklich alles offen steht: der Weg in die neue Moderne (die noch keiner kennt) oder Warteschleifen in der Postmoderne. Auffällig war jedenfalls, dass eine Figur wie Bartók als praktisch einziger Traditionsgrund zwar nachdrücklich beschworen wurde, ohne dass doch das intensive kompositorische Zwiegespräch gesucht worden wäre. Anders war das noch beim jungen Eötvös. Wie die Eötvös-Spezialistin Gabriele Faust zeigte, suchte der Komponist in seinem 1961 entstandenen Klavierwerk „Kosmos“ – eine Spontanreaktion auf Gagarins Weltraumfahrt – auch in der fast etwas naiv anmutenden Nachzeichnung des Prozesses vom „Big Bang“ bis zur Planetenbildung das Gespräch mit Bartóks 1926 komponierten „Klängen der Nacht“.

Auch als Kursleiter überzeugte Eötvös mit Umsicht und einem großen persönlichen Einsatz, auch wenn ihn sein eng gezogener Terminplan binnen vierzehn Tagen zweimal zu wochenendlichen Dirigierverpflichtungen nach England rief. In den Ankündigungen zu seinen seinem Œuvre gewidmeten Ateliers und Analysen führte dies zu den schönen Klammerzusätzen „avec Peter“ und „sans Peter“. Dabei wurde seine partielle Abwesenheit im Kreis der Jungdirigenten und Jungkomponisten erstaunlicherweise ohne Unmut zur Kenntnis genommen. Dass Eötvös immer mal wieder entschwebte, rief vielmehr insgeheim Bewunderung hervor – weshalb darin auch Keimzelle und Treibstoff des „anderen“ Programms, des Subtextes zu Centre Acanthes 2001, erkennbar wurden: Wie führt der Weg von dieser Welt in die Eötvös-Welt? Eine Frage, die für jeden Einzelnen aus dem Rudel der jungen, namenlosen Wölfe von eminent praktischer Bedeutung war. Centre Acanthes 2001 gewährte somit mehrfache Einblicke: den in die kompositorische und interpretatorische Welt des Peter Eötvös wie des jüngeren Ungarn und einen weiteren in die für gewöhnlich verdeckte Welt darunter.

Die bestand zunächst aus fünf dirigierenden Komponisten, die Eötvös zu Kursbeginn anhand des Prüfungsdirigats von Varèses „Octandre“ aus einem Zehnerpool herausgefischt hatte. Hart, aber gerecht – wie alle bestätigten, auch der Leiter des zweiten Kompositionsateliers Zoltàn Jeney, ein von Cage beeinflusster, aber im Unterschied zu Eötvös in Ungarn gebliebener Komponist. Andererseits wäre Eötvös nicht Eötvös, ließe er nicht auch Ausnahmen von der Regel zu. Die hieß Jin Jinj, zählt einundzwan-zig Lenze und kam direkt aus China. Die Nicht-Dirigentin Jinj, die bei ihrer Berufsangabe („I am a composer“) durchaus sympathisch-verlegen lächelte, hatte mit „charmed magnolia“ für sechs Blasinstrumente und Perkussion eine Arbeit vorgelegt, die den Traditionsbezug mittels in die Flöte verlegter pentatonischer Skalen herstellte und im nächsten Moment untergrub. Das Sechsminutenstück begann und schloss mit Tuttifortissimo, wobei die Instrumentalisten des UMZE-Ensembles einen Kampfschrei auszustoßen hatten. Ein Knalleffekt, der klar machte: Wer etwas werden will in der Welt der „composers of serious music“, muss nicht nur viel Talent, er oder sie muss auch den Willen mitbringen, sich hinzustellen, wo und wie noch keiner stand.

Insgesamt blieb das Teilnehmerfeld auf dem Probeparcours von Centre Acanthes relativ geschlossen. So entschied das Fotofinish vielleicht für den jungen, aus Süditalien stammenden, in Köln studierenden Komponisten Valerio Sannicandro, der seine „Konturen des Schreis“ („profili del grido“), eine Art Metakommentar zu Edvard Munchs „Der Schrei“, mit großer Überzeugungskraft selbst dirigierte. Solche Doppelbegabung, solches Doppelinteresse mag, wenn überhaupt, die Botschaft von Centre Acanthes unter Peter Eötvös gewesen sein. Komponieren und Dirigieren – seinem Stern folgen und das Handwerk des Dirigierens verfolgen. Mit seiner in den Niederlanden ansässigen, vor zehn Jahren gegründeten „International Eötvös Institute Foundation“ ist dies ein Programm, das Peter Eötvös in seiner Person wie in seinem künstlerischen Handeln konsequent ver-folgt. Gemeinsam mit fünfundzwanzig Jahren Centre Acanthes sind das zwei runde Daten fürs erfolgreiche Ineinander von neuer Musik, elaborierter Ästhetik und Pädagogik.

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