Hauptbild
Musik, gefesselt  im Spiel der Systeme: Séverine Ballon als Solistin bei „Distanz“ von Marianthi Papalexandri-Alexandri (Eclat Festival 2018). Foto: Susanne van Loon
Musik, gefesselt im Spiel der Systeme: Séverine Ballon als Solistin bei „Distanz“ von Marianthi Papalexandri-Alexandri (Eclat Festival 2018). Foto: Susanne van Loon
Hauptrubrik
Banner Full-Size

Relevant im Spiel der Systeme

Untertitel
Gedanken zu einer unnötigen Diskussion über das Notwendige · Von Jürgen Oberschmidt
Publikationsdatum
Body

„Wohl dem, der, wann der irdische Boden untreu unter seinen Füßen wankt, mit heitern Sinnen auf luftige Töne sich retten kann“, so ruft der „Tonkünstler“ Joseph Berlinger in Wackenroders „Herzergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders“ (1797) aus. Seine Weltflucht ist eine Reaktion auf das poesielose Gefühl und die rastlose, ausschließlich vom „gemeinen Zweck und Nutzen“ bestimmte Prosa jener Welt, der man zu entkommen suchte.

Bis heute streben so manche nach dem Ziele in luftigen Höhen, ihr „ganzes Leben“ möge „eine Musik seyn“ –, und in den erhabenen Sphären der Kunst lassen sie los vom „Weltgetümmel“: „Ich leb’ allein in meinem Himmel, in meinem Lieben, in meinem Lied.“ So endet Friedrich Rückerts Gedicht „Liebesfrühling“, er beschreibt einen Menschen, der einer Welt abhanden gekommen ist, das Leid der Welt unter sich gelassen und nun in „seinem Lied“ zu sich selbst gefunden hat. Kunst scheint sich den gesellschaftlichen Zielsetzungen und Handlungsvorstellungen zu verweigern, sie genügt sich und steht für sich selbst. Mit einem abfälligen Unterton wird solch eine Weltflucht auch als Eskapismus bezeichnet, wie ihn nicht erst Andreas Dorschel in seinem äußerst anregenden und lesenswerten Essay „Der Welt abhanden gekommen“ (Merkur 66/2012, S. 135–142) für die klassische Musik ausmacht.

Kenner der Hohen Schule des Reitsports kennen Eskapaden als entweichenden Sprung eines Dressurpferdes, Fachleute der Hohen Schule der Pädagogik sprechen ebenfalls von Eskapaden ihrer Schutzbefohlenen – und hier schwingen selten positive Konnotationen mit, wenn sich Eskapierende den schulischen Dressuren entziehen möchten – und das gilt nicht nur für diese. In der tauben Prosa unseres Alltags gilt es schließlich als ausgemacht, dass jeder Schritt zur Seite bereits ein falscher ist, nur die Kunst schenkt uns Muße zum Verweilen. Wer sich auf einen Holz- oder Feldweg begibt, hätte früher mit Heidegger, durch dessen Gesamtwerk sich diese Metaphern ziehen, trefflich darüber philosophieren dürfen. Heute fügt sich eine solche Diskussion nicht ins „Öko-System“ (laut „Gablers Banklexikon“ die Abk. für: „Business Ecosystem“) gesellschaftlicher Wirklichkeiten, selbst in unser Freizeitverhalten drängen sich solche Programme der ständigen Selbst­optimierung ein.

Für die Kunst wäre es unlängst noch eine herabwürdigende Zuschreibung gewesen, würde man behaupten, sie sei systemrelevant. Schließlich sei es doch ihr eingeschriebenes Anliegen, den Schritt zur Seite zu gehen, sich jenseits aller Systeme zu bewegen, wo es doch schließlich im Innehalten genau das zu hinterfragen gelte, was man in himmlischen Höhen schon überwunden glaubte.

Die Joseph Berlingers unserer Zeit leben nun in den seltensten Fällen in den vielbeschworenen Elfenbeintürmen oder als „arge Abseiter“ (Johannes Brahms), die sich selbst am liebsten „verpuppen“ würden (Robert Schumann) in den eigenen Welten sozialer Emigration. Die Kunst lebt ihr Exil in aller Öffentlichkeit aus, sie tritt vor ihr Publikum, um sich mit diesem und der Welt zu vereinen. So sorgt die Musik auf meist irdischem Boden mit ihren klingenden Realien dafür, dass der Welt nicht gerade jenes abhanden kommt, für das es sich zu leben lohnt: „Man weicht der Welt nicht sicherer aus als durch Kunst, und man verknüpft sich nicht sicherer mit ihr als durch die Kunst“, stellt Goethe in seinen „Wahlverwandtschaften“ fest – und treffender als in Ottilies Tagebüchern ließe sich dieses Außen-Vor und gleichzeitige In-der-Welt-Sein der Kunst wohl nicht in Worte fassen.

Was bei Goethe noch sauber geknotet und verwoben war und hier nach einer geradezu natürlichen Verbindung in logischer Zwangsläufigkeit aussah, scheint durch die pandemischen Einschläge des letzten Jahres zum luftigen Gespinst verkommen zu sein, auch wenn einzelne Wohnzimmerinszenierungen unerwartet intime Fernbeziehungen zulassen. Das aus den zwei Elementen der Kettgarne und Schussfäden gefertigte Gewebe scheint zerschlagen – oder hat es sich vielleicht gar als ein selbstgesponnenes Fangnetz erwiesen? „Ich leb’ allein in meinem Himmel, in meinem Lieben, in meinem Lied.“ Der Kunst ist Welt und der Welt die Kunst abhanden gekommen!

Nun könnte man daher gehen, das Netz zu flicken, um zu fordern, dass die alten Ordnungen wiederherzustellen seien. Solche Forderungen sind bereits hinlänglich gestellt worden – und an manchen Äußerungen merkt man auch, wie wenig die einzelnen nun auflautenden Stimmen bisher davon erfahren haben, wie intensiv das profane kulturpolitische Weltgetümmel sich ihrer Sorgen und Nöte bereits angenommen hat. Man kann aber auch etwas tiefer eintreten in das dynamische, kausale Beziehungsgeflecht zwischen der Kunst und der Welt, um zu fragen, wie jenes beschaffen ist, von dem wir weichen wollen, wie die Welten, in denen sich die Kunst bewegen möchte und vor allem geht es dann um die entscheidende Frage, wie sich der Knoten auszugestalten habe, der nach Goethe beide Welten miteinander verbinden soll. Man könnte auch ganz profan den schon so oft getätig­ten Erkundungen nach der Systemrelevanz nachgehen, jenen Fragen, die sich nicht nur mit dem Blick auf Maß, Gewicht und Zahl beantworten lassen, weil sie eben auch einen bestimmten Blickwinkel voraussetzen und hier zunächst zu klären ist, was unter „Relevanz“ und was unter einem System verstanden werden soll, für welches System die Kunst überhaupt relevant sein möchte und wie sie sich gegen ein bestehendes System zu stellen habe, um dieses nachhaltig zu verändern.

Kunst ist außerhalb des Systems relevant!

Warum sich Kunst außerhalb unserer Zweckbetriebe bewegen muss, hat Friedrich Schiller in seiner vielzitierten Abhandlung „Über die ästhetische Erziehung des Menschen“ zum Ausdruck gebracht: „Der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Worts Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch wo er spielt.“ Dahinter steht mehr, als dass sich die Kunst außerhalb von Brot und Butter zu bewegen habe, denn für Schiller können Einflussnahmen auf das vorfindliche System eben nur in der Kunst stattfinden: Wenn der in Freiheit geborene Mensch sich aufmacht und seine „Ketten bricht“, ist dies unter den damals gegebenen Herrschaftsverhältnissen eben nur von dieser Kunstfreiheit gedeckt. Nur in solcher Autonomie gegenüber den „zweckvollen Bereichen des Lebens“ kann Kunst ihren Zweck für die Gesellschaft erfüllen, darum gilt: Kunst ist relevant! Wenn heute Stimmen laut werden, die ­solch ein Denken als elitär kritisieren, könnte es auch daran liegen, dass vor lauter Erhabenheit und Selbstgefallen bei manchem Kunstschaffenden genau diese gesellschaftliche Verantwortung in den Hintergrund geraten ist. Erinnert sei hier daran, wie die preußische Oligarchie Ludwig Tieck an den Hof band, wo er ein sorgenfreies Leben im ehrenwehrten Haus führen durfte: „Und was drückst du mit den Worten Nutzen aus? Muss denn alles auf Essen, Trinken, Kleidung hinauslaufen? Oder dass ich besser ein Schiff regiere, bequemere Maschinen erfinde, wieder nur um besser zu essen?“ Das „Nützlichsein“ sei der Kunst wie der „göttlichen Natur ganz fremd.“ Wer allein die Frage nach Systemrelevanz stelle, würde die „Erhabenheit ent­adeln und zu den gemeinen Bedürfnissen der Menschheit herabwürdigen“ (Ludwig Tieck). Seine letzte Lebensdekade sollte Tieck in Einsamkeit verbringen. Eine staatliche „Apanage“ (frei aus dem franz. übersetzt: „mit Brot versorgende Überbrückungshilfe“) allein genügte auch damals niemandem, ihm blieb ein Leben allein in seinem Himmel, in seinem Lied.

Über „Systemrelevanz“

Der Begriff Systemrelevanz ist nicht erfunden in unseren aktuellen Notlagen und hier aufgesprungen auf einen bereits fahrenden Seuchenzug; vielmehr hat sich der Begriff bereits in der Finanzkrise 2007 für rettungswerte Großbanken herausgebildet: Für systemrelevant, systemtragend, systemisch wurde erklärt, was unser Wirtschaftssystem bedroht, wobei Zentralbanken im Vorfeld Kriterien dafür definieren, wann Großbanken und Unternehmen unter diesem Schutzschild gerettet werden sollen: „Systeme sind die bescheidenste Form, in der Jemand von sich selber reden kann – eine undeutliche und stammelnde Form von Memoiren“, wusste bereits Friedrich Nietzsche, wobei er eher philosophische Systeme als den Interbankenhandel im Blick gehabt haben dürfte.

In der Systemtheorie wird der Begriff „System“ in einem konstruktivistischen Sinne verwendet, wobei hier nur erinnert werden kann, dass die verschiedenen Lesarten des Konstruktivismus gemein haben, dass Wirklichkeit nie an sich existent ist, sondern diese immer im Auge des jeweiligen Betrachters liegt, der mit seinem Blick immer auch von sich reden macht. Ganz in diesem Sinne sind Systeme immer Beobachterkonstruktionen, setzen einen Beobachter voraus, der das System konstruiert. Und während der Finanzkrise haben sich jene als Beobachter auserkoren, denen zuvor der Staat als Störenfried der Märk­te galt, so wie sich die Künste in ihrem Lied von allen irdischen Belästigungen zu befreien suchten.

Es gibt auch nicht ein System, unsere Gesellschaft besteht aus vielen geschlossenen Systemen, wer hier von Systemrelevanz spricht, für den gibt es immer ein Innen und Außen. Und es ist dabei entscheidend, welche kritischen Stimmen die systemrelevanten Branchen zusammenzählen und wessen Einflussnahmen sie erliegen, wenn darüber befunden wird, wo sich hier nun Schulen, Baumärkte oder der Fußball einzureihen haben – für letzteren gelte schließlich auch, dass der Mensch nur dort wirklich Mensch sei, wo er spiele. „Arge Abseiter“ werden nicht als vermisst gemeldet, ihnen gewähre man ihre Überbrückungshilfen, sie leben allein in ihrem Himmel, in ihrem Leben, in ihrem Lied.

Für die Kunst böte sich nun ein Weg aus dem beschriebenen Dilemma, indem man eine andere Beobachterperspektive einnähme, um damit jenen Göttern zu dienen, die eher im irdisch Profanen zu Hause sind. Hier gelte es, die Kunst selbst mit all den ihr zuliefernden Gewerken als gewichtigen Wirtschaftsfaktor auszufalten, um sie damit als systemrelevant darzustellen.

Welchen Göttern dient die Kunst?

In diese Argumentation fügte sich dann auch, ihre sekundären Qualitäten des Genusses, des Gefallens ausfindig zu machen. Lebensrelevant würde die Kunst dann allein durch ihren Kompensationscharakter: In der Kunst böte sich uns ein musikbegleiteter Rettungsschirm gegen die alltäglichen Optimierungs- und Beschleunigungsmechanismen unserer Gesellschaft – auch, indem sie ein Kompensationsbecken bereitstellte, um unsere Arbeitsfähigkeit zu erhalten oder wiederherzustellen. Die Musik würde dann zu jenem, was in anderen Argumentationszusammenhängen auch schon als „Opium des Volkes“ bezeichnet wurde. Solch ein Rauschmittel dürfte allerdings in einer passiven Beschau der längst für systemrelevant befundenen Rasenballvereine eine weitaus größere Wirksamkeit entfalten. Uns allen sind die Auswirkungen der Luhmannschen Systemtheorie schmerzlich widerfahren. Wir haben erleben müssen, wie Systeme in der Beobachtung entstehen, wie vorausgesetzte Wirklichkeit in jenem System erscheint, das ein Beobachter erst konturiert, um diese dann auf das von ihm Erlebte zu projizieren. Wenn nun Friedrich Nietzsche in seiner „fröhlichen Wissenschaft“ ein „höheres organisches System“ fordert, in dem Kunst, Wissenschaft und „practische Weisheit des Lebens“ zusammenfänden, dann zeugt dies bereits von übergreifenden Argumentationslinien. Wenn aber Kunst, praktische Weisheit des Lebens und eben Wissenschaft hier auf diese Weise zusammenkommen wollen, dann muss die Kunst aber auch ihr Mitspracherecht ausüben! Nicht, indem sie sich als leichte Muse den fremden Göttern andient, sondern indem sie in der ihr eingewurzelten Sprache und der ihr eigenen Stimme spricht, indem sie aneckt, sich gegen das vorfindliche System stellt. Kunst ist relevant, wenn sie sich den gesellschaftlichen Realitäten stellt. Bereits in der Frage, was als „Relevanz“ zu bezeichnen sei, macht die Kunst den Unterschied: Mit Relevanz verbinden sich Begriffe wie Nachdruck, Bindung, Gewicht, Substanz, Tragweite, Bedeutsamkeit. Gemäß des lateinischen Leumunds „re-levare“ gilt es, den Waagebalken der Sache in die Höhe zu heben. „Der Dichter lebt in der idealistischen Welt und arbeitet für die wirkliche“, schreibt Robert Schumann in seinem Jugendaufsatz „Das Leben des Dichters“. Bei aller künstlerischer Selbstverpflichtung gilt es, die gesellschaftliche Verantwortung für dieses wirkliche „Weltgewimmel“, bewusst wahrzunehmen. Dann entfaltet die Kunst ihre Relevanz im Spiel der Systeme!

Weiterlesen mit nmz+

Sie haben bereits ein Online Abo? Hier einloggen.

 

Testen Sie das Digital Abo drei Monate lang für nur € 4,50

oder upgraden Sie Ihr bestehendes Print-Abo für nur € 10,00.

Ihr Account wird sofort freigeschaltet!