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Schatten-Dasein

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Komponisten, die aus dem Raster fallen
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Unser musikgeschichtliches Verständnis orientiert sich an Eckdaten: Sie sind an bedeutenden, zumindest bekannten Komponisten und deren Werk festgemacht. Das ergibt zwangsläufig eine Auswahl in Form eines Rasters, das höchstens einen Überblick ermöglicht. Es ist überdies so weitmaschig gewirkt, dass es überflüssig Scheinendes als Quantité négligeable durchfallen lassen kann. Daraus entsteht in der Nachwirkung ein fehlerhaftes, zumindest ein unvollkommenes Bild. Taucht ein bislang unbekanntes Material auf, das der Überprüfung standhält, führt das zu einer Korrektur des Raster-Systems und erweitert es.

Diese Situation ist diskussionsbedürftig angesichts einer Legion von unbekannten, abseits angesiedelten, auch verkannten Komponisten – in jedem Jahrhundert, in jeder Stilepoche. Es mag überraschen, dass ein Blick in den aktuellen Bielefelder Klassik-Katalog darüber informiert. Er führt auf, was auf dem im ganzen flüchtigen Medium Tonträger für eine gewisse Zeit erreichbar ist, bietet vom effektiv Existierenden allerdings nur einen Ausschnitt. Selbst dieses Wenige – eine bunte, aber spezielle Palette – ist staunenerregend und erweitert unseren Wissensstand erheblich. Begreift man die Information als Anregung, stellt sich als Folge nahezu automatisch die Frage, was der Grund dafür sein mag, dass so viele Komponisten dauerhaft in den Schatten von Zeitgenossen, die die Eckdaten ungewollt verantworten, treten, also ein Nischendasein fristen, und das überwiegend für immer.

An nur wenigen, durch CD-Neuerscheinungen aktuell belegbaren Beispielen soll das Phänomen beleuchtet werden. Es erscheint besonders gegeben im 19. Jahrhundert. Dieses wird beherrscht von Richard Wagner, sodann von Bruckner und Brahms, die ihrerseits sogar singuläre Komponistenpersönlichkeiten wie Schumann, Mendelssohn, Liszt und Chopin in unserer Wahrnehmung – je nach persönlicher Vorliebe – zurücktreten lassen. Max Bruch, fünf Jahre jünger als Brahms, erscheint bereits als ein Zuspätgeborener. Und welche Chance bot sich zu seinen Lebzeiten und bietet sich heute für den Komponisten Eduard Franck?

Er war direkter Zeitgenosse der Eckdatenbesetzer, war nur vier Jahre jünger als Wagner und hat ihn zehn Jahre überlebt. Seine Vita verlief unspektakulär (im Gegensatz zu der Wagners), er war Kompositionsschüler Mendelssohns, wurde von Schumann beachtet, er unterrichtete und war ein anerkannter Klaviersolist, zum Beispiel in Beethovens Klavierkonzerten. Er gehörte nicht zur neudeutschen Schule Liszts und hat sich nie der Oper angenähert. Sein kompositorisches Schaffen umfasst Orchestermusik und Werke für Kammerbesetzungen und scheint schon zu seinen Lebzeiten nicht sonderlich bekannt geworden zu sein. Das beantwortet die Frage nach Francks Wirkung auf seine Zeitgenossen negativ. Eine Nachwirkung war daraufhin wohl ebenfalls kaum zu erwarten.

Mittlerweile liegen sieben CDs mit Musik von Eduard Franck vor, sie sind zwischen 1996 und 2004 erschienen und verdanken sich der Zusammenarbeit des Labels audite (und seines Initiators Ludger Böckenhoff) mit verschiedenen Rundfunkanstalten. Die treibende Kraft setzte indes von künstlerischer Seite ein, von der Geigerin Christiane Edinger. Sie hat zwei Violinkonzerte Francks sowie Streichquartette und neuerdings dessen beide Streichsextette mit ihrem Edinger-Quartett (unter Zuzug weiterer Musiker) aufgenommen. Besonders Francks Kammermusik evoziert die Frage, warum diese Musik so ganz vergessen scheint und ob sie nicht eine faire Chance verdiente. Dazu muss man ihre Existenz erfahren (was diese CD-Reihe leistet), das Aufführungsmaterial erhalten können und natürlich als Voraussetzung vom Sinn ihrer Präsentation überzeugt sein.

Vorbilder und stilistische Nachbarschaften, gar Abhängigkeiten lassen sich immer herstellen, wenn man Zeitbezüge und biographische Hintergründe der Komponisten kennt. Hört man die Musik Francks, etwa seine beiden Streichsextette (die immer an Brahms und Dvorák denken lassen, auch wenn man das nicht zulassen will), so hört man, wenn man es ehrlich angeht, den eigenständigen musikalischen Kern dieser Musik heraus, ihre perfekte Handwerklichkeit und damit einen Originalitätsanspruch, der hinter Brahms nicht zurückstehen muß (auch wenn Brahms bei der Betrachtung – zugegebenermaßen – nie gänzlich auszuschließen ist).

Je näher man als Musikhörer einer Stilepoche steht, desto heikler ist der Versuch, zwischen lebenden Komponisten zu vergleichen. Zum Beispiel ist die Bedeutung und musikhistorische Nachwirkung Olivier Messiaens (Jahrgang 1906) unbestreitbar, seine Position innerhalb der neuen Musik des 20. Jahrhunderts eindeutig. Diese Merkmale konnten unter anderem erwachsen aus Messiaens Eingebundensein in einen definierbaren kulturellen Zusammenhang. Der Vergleich Messiaens mit einem amerikanischen Komponisten seines Jahrgangs bietet sich an. Paul Creston, 1985, also sieben Jahre vor Messiaen, gestorben, hat – kulturell gesehen – eine schwierige Kinder- und Jugendzeit durchgemacht. Er erfuhr kaum Förderung durch die Familie, die er ab dem 15. Lebensjahr miternähren mußte. Seine Ausbildung zum Musiker erfolgte ausnahmslos autodidaktisch – von etwas frühem Klavier- und Orgelunterricht abgesehen. Creston hat – welch seltsame Palette – so unterschiedliche Geister wie Bach, Scarlatti, Chopin, Debussy und Ravel als seine Lehrer bezeichnet. Als Kinoorganist schlug er sich durch, stand in keiner Verbindung zu bekannten Statthaltern der Musikszene und war schon über 30, als er ein Stipendium erhielt. Toscanini hat 1942 immerhin ein Stück des 36-Jährigen dirigiert.

In den USA scheint heute das eine oder andere Werk Crestons zum Pflichtrepertoire der heimischen Orchester und ihrer Dirigenten zu gehören. So sind auch einige nicht von den ersten Orchestern der USA aufgenommene CDs mit älteren Einspielungen einiger Symphonien und Konzerte Crestons bei uns erhältlich. Die jüngste des Labels Naxos stammt aus diesem Jahr. Sie kann nur wenig beeindrucken, und zwar nicht etwa beim Vergleich Crestons mit Messiaen oder einem anderen dieser Jahrgangsstufe – das verbietet allein schon die Kenntnis vom völlig isolierten kulturellen Heranwachsen Crestons. Aber seine von Grund auf traditionell verwurzelte, allenfalls spielerisch mit dissonanten Anschärfungen in eine pseudochaotische sich begebende, ausgesprochen antiquiert wirkende Klangwelt sucht sich Wege, die nicht nur ins Abseits führen, sondern auch – originalitätsarm wie sie ist – gleichsam sich selbst aufzehrt. Creston gibt auch kein Gegenbild zu Messiaen ab, dazu wäre eher der Balte Eduard Tubin, geboren 1905, mit seinen elf Symphonien in der Lage, obwohl er im grundsätzlichen ästhetischen Gegensatz zu Messiaen steht.

Das Stichwort „isoliert“ trifft nicht auf den dritten Komponisten zu, der genannt werden soll. Ihm gegenüber befinden allenfalls wir uns im Fast-Zustand der Isoliertheit, zumindest einem der Uninformiertheit. Der Bielefelder Katalog nannte ihn bisher mit einem einzigen Werk, nämlich Klavier-Variationen auf einer Hyperion-CD. Es ist der 1951 in New York geborene George Tsontakis, Sohn italienischer Immigranten, Kompositionsschüler von Roger Sessions und später der römischen Akademie Santa Cecilia. Seinem Alter nach gehört Tsontakis zu dem deutschen Komponisten Wolfgang Rihm. Dessen Kompositionsästhetik ist in ganzer Breite, auch mit ihren neuerdings immer evidenter werdenden differenzierten Grundabweichungen, einsehbar, die von Tsontakis, nach der neuen CD mit einem freilich sehr gewichtigen Werk zu urteilen, durchaus nicht. Allerdings verdeutlicht sie die originelle Eigenwilligkeit und das subjektive Eigengewicht der Musik des Amerikaners, der hier betont kulturenübergreifend vorgegangen ist, indem er „Die vier Quartette“ T.S. Eliots seinen „Four Symphonic Quartets“ zugrundegelegt hat, ihnen aber lediglich in ihrem Sprachklang und nicht ihrer theoretischen Basis und den entsprechenden Konsequenzen gefolgt ist. Die vier Stücke von knapp einer Stunde Dauer reflektieren den geheimnisvoll-wunderbaren Kosmos der zu Unrecht verdrängten Dichtung Eliots und geben ergiebige Auskunft über des Komponisten ausgewählten literarischen Geschmack und über seine Fähigkeit, Poesie als Antriebsmoment zu nutzen, ohne darüber reproduktionsartig in eine Abbildungsmanier zu verfallen. Tsontakis’ Musik ist emotionsaufgeladen und emotionsgesteuert, entgleitet dabei nicht in Beliebigkeit trotz der gezielten Mischung aus dissonanten und konsonanten Klangelementen und der großangelegten Klangaufschwünge, die Tsontakis aus melodiös geführten und rhythmisch scharf abgegrenzten Mikroelementen als thematische Bausteine entwickelt. Charles Ives mag zu Teilen Pate gestanden haben für diese vier aufrauschenden symphonischen Sätze, deren jeder für sich steht in der möglichen zyklischen Bindung. Nicht groß ist der Abstand dieser Musik von Tsontakis zu den elementaren Naturpoemen des Isländers Jón Leifs (1899–1968). Aber der könnte gleich eine neue Betrachtung in Gang bringen.

Die konzentrierte Begrenzung des hier angestoßenen Themas auf nur drei Komponisten, die im Schatten alles beherrschender Jahrhundertfiguren stehen, aber zumindest in zwei Fällen ihrer künstlerischen Bedeutung gemäß eine eigengewichtete Beachtung verdienen, steht stellvertretend für eine kaum je zu beendende Diskussion des Themas. Der enorme, gar nicht zu erfassende Reichtum an Musik durch die Zeiten hin wird nie wunschgemäß darzustellen sein. Gezeigt werden muss jedoch, welcher breiten Basis die oben beschriebenen Eckdaten der Musikgeschichte ihren Standort verdanken.

Diskografie

Eduard Franck: Streichsextette opp. 41 und 50; Edinger Quartett, Leo Klepper (Viola), Mathias Donderer (Violoncello).
audite /Naxos 20.033

Paul Creston: Toccata op. 68, Symphonie Nr 5, op.64, Out of the Cradle, op. 5, Partita op. 12; Seattle Symphony, Gerard Schwarz.
Naxos 8.559153

George Tsontakis: Four Symphonic Quartets. Orchestre de Philharmonique de Monte-Carlo, James DePreist.
Koch International Classics 3-7384-2-H1

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