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Kinder- und Musikversteherin: Marianne Petersen. Foto: privat
Kinder- und Musikversteherin: Marianne Petersen. Foto: privat
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So lernt jeder Geige spielen

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Ein Portrait der Streicherpädagogin Marianne Petersen
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Lehrerinnen und Lehrer haben einen gesellschaftlich wichtigen Beruf. Gemeinsam mit den Eltern helfen sie den Kindern, sich zu entwickeln. Dafür müssen sie motiviert sein und viel können. Leider wird ihnen das nicht immer gedankt. Von einer besonders guten Lehrerin soll daher hier beispielhaft berichtet werden: Marianne Petersen, Hamburg, Streicherpädagogin.

Warum ein Artikel über gerade diese Lehrerin? Der Grund ist ihre Haltung der Sache und dem Kind gegenüber. Die Musik ist heilig und man muss sich ihr mit Liebe, Respekt und großer Gründlichkeit widmen. Aber auch dem Kind ist mit Liebe und Respekt zu begegnen. Guter Unterricht muss die Eigenart und das Wollen des Kindes im Blick haben, damit sich auch das Kind mit Liebe der Musik und dem Instrument zuwendet. Dann gewinnt es mit dem Geigenspiel eine lebenslang wirkende Bereicherung.

Frau Petersen ist eine große Kinderversteherin. Interessen, Stimmungen und Kräfte des Kindes hat sie voll im Blick. „Jeder ist auch mal müde, hat mal keine Lust.“ Sie kann auch warten, bis das Kind sich wieder konzentrieren kann. Auch mal mehrere Minuten. „Lauf dreimal um den Tisch! – Geht es jetzt wieder?“ Kommt dem Kind beim Spielen eine Assoziation, darf es erzählen. Die Lehrerin hört aufmerksam zu. Oft endet alles in fröhlichem Gelächter. Kinder wollen fröhlich sein. Das Kind und sein Wesen werden ernst genommen. „Ohne Liebe zu den Kindern geht es nicht. Man sollte nicht nur unterrichten, um Geld zu verdienen“. Stichwort Üben: Kaum ein Kind will immer üben. „Wenn du gar nicht üben magst, ruf mich an. Dann beraten wir, was wir machen.“ Der Faden soll nicht abreißen. Weihnachten bekommt auch diese Lehrerin kleine Geschenke. Gekauftes und Selbstgemachtes. „Das Selbstgemachte schaue ich mir gleich an! Das andere später.“ Individualität und Selbsttun werden unterstützt.

Echte Teamarbeit

Erfolgreicher Unterricht ist Teamwork. Meist kommt nur etwas dabei heraus, wenn Schüler, Lehrkraft und Eltern sinnvoll zusammenarbeiten. In den ersten zwei Unterrichtsjahren des Kindes soll ein Elternteil möglichst immer im Unterricht dabei sein. Im dritten Unterrichtsjahr immer mal wieder. Damit die Eltern das Kind zu Hause unterstützen können. Im Hausaufgabenheft wird alles aufgeschrieben, was gerade zu beachten ist. Soll ein Kind ein Instrument erlernen, ist das eben auch ein Job für die Eltern. Gut, wenn Eltern dazu bereit sind. Zur Kunst der Lehrkräfte gehört, die Eltern für die richtige Unterstützung zu gewinnen. Bei Frau Petersen machen alle mit. Dass ein Bildungserfolg meist von der sozialen Herkunft abhängig ist, wissen wir. Die Eltern sind dankbar, wie engagiert, qualifiziert, leistungsorientiert, aber eben auch kindgerecht diese Lehrerin unterrichtet. Dafür legen Eltern und Kinder lange Wege zurück. Für die Extraproben steht man samstags früh auf, werden auch einmal ganze Wochenenden frei gehalten.

Musik ist Kunst für die Ohren und für den Bewegungssinn. Und: Musik ist ein Ausdrucksmittel. Deshalb beginnt der Unterricht bei Frau Petersen nicht mit Noten und Tonleitern, sondern mit Liedern, Geschichten, Bewegungen, mit Hören und Zusammenspiel. Das öffnet die Ohren, entwickelt den Klangsinn. Dazu kommen ganzkörperliche Bewegungen. Sie erschließen die Bewegungsinhalte der Musik und machen den Körper weit. Von Anfang an wird gemeinsam musiziert. Beim gemeinsamen Musizieren entwickelt sich das Sprechen mit und über Musik, sowie das Verständnis für das Musizieren anderer.

Es sind aber auch die Details. Geigen lernen ist ein jahrelanges Aufbauen von Detail auf Detail. „Gutes Geigenspiel muss man züchten.“ Aber die Kleinarbeit soll auch Freude machen, die Schülerinnen und Schüler müssen für die einzelnen Bewegungsabläufe interessiert werden. „Heute habe ich das Steuern geübt. Mit dem Schiff (Bogen) darf ich nicht aufs Land (Griffbrett) kommen.“ – „Ich spiele jetzt Banane (Bogenführung)“ – „Heute hatte ich die Tomate (linke Hand).“ Wir wissen, wie kleinschrittig Lernen funktioniert. Frau Petersen kennt die kleinen Schritte und bringt sie gezielt zum Einsatz. Jeder gelungene neue Schritt wird freudig begrüßt. Das feuert an. Auch jede ungünstige Entwicklung wird sofort entdeckt. Zum Glück gibt es für jede Hürde einen Lösungsvorschlag. „Ich weiß jetzt, wie du das noch besser machen kannst!“ Dabei ist die Stimmung immer positiv: „Mittelgut!“. Keine inflationäre Nutzung von „super!“ oder „cool!“, sondern „Heute bekommst Du einen Stern in Dein Hausaufgabenheft!“ Andachtsvoll wird der betrachtet, denn den gibt es keineswegs nach jeder Stunde. Misslingt etwas, schreit die Lehrerin schon mal auf. Das Kind erlebt, dass die Sache wichtig ist. Einmal ist die Lehrerin sogar richtig empört: „So darfst du nicht in die Ferien! Das müssen wir vorher noch verbessern. Du kommst in den ersten Ferientagen dreimal zu mir“. Das macht Eindruck. Schon nach zwei Terminen hat das Kind die Hürde genommen und kann mit den Ferien beginnen. Ob der wöchentliche Unterricht stattfindet oder nicht, ist nicht beliebig. Kann ein Kind einmal aus ernst zu nehmenden Gründen nicht erscheinen – und die Eltern empfinden Bedauern, eine Stunde abzusagen, haben auch Hemmungen es zu tun, weil die Lehrerin den Unterricht so ernst nimmt –, wird garantiert ein Ersatztermin gefunden. Ist die Lehrerin mal krank, kommt es vor, dass in der ersten Woche immerhin die eine Hälfte der Schüler unterrichtet wird, in der nächsten die andere. In dem Wissen, dass es für die Entwicklung der Kinder einfach schlecht ist, wenn Unterricht ausfällt.

Voller Einsatz gefordert

Das Gesamtklima ist leistungsfreudig. Das muss sein, Leistung ist gut und macht Spaß. Immer geht es um vollsten Einsatz. „Kinder wollen gefordert werden.“ Zum Fünfjährigen: „In den Ferien übst du zehn mal!“ Das macht er auch. Es ist schön, etwas gelernt zu haben, es ist schön, zu wachsen. „Aber immer mit der Freude des Kindes, gewaltlos, mit dem Strom, nicht gegen ihn.“ Die Liebe zur Geige und zur Musik darf dabei nicht verloren gehen. Es gilt nicht nur der nächste Wettbewerb, nicht nur ein Schneller-Höher-Weiter. Das sind die „Kampfgeiger“. Trotzdem herrscht auch hier eine Haltung wie beim Sport: Wir versuchen es noch mal! Wir werden den Ball doch ins Tor kriegen! Jedes Vorspiel ist bestens vorbereitet. Im Unterrichtsraum muss das Stück schon mal gekonnt sein. Vorspiele vor den Mitschülern gehören dazu. Dann übt man bei den Auftritten vor Außenstehenden nur noch, mit der Aufregung umgehen zu können. „Der Unterricht muss die Kinder kompetent und erlebnisfähig machen. Lehrerinnen und Lehrern muss es ein Anliegen sein, dass die jungen Geigerinnen und Geiger Freude und seelischen Gewinn an der Musik finden.“

Auch an Musikvermittlungsprojekten beteiligt sich Marianne Petersen mit ihren Schülerinnen und Schülern. Aber nicht an Veranstaltungen, wo es nur um ein Amüsement geht. Ihre Schüler spielen mit einem Profiorchester zusammen Teile von Werken Haydns, Beethovens, Schumanns oder Griegs. Dafür üben die Kinder fast ein Jahr lang. Keine „Leichtigkeitslüge“. Ein Ergebnis: „Papa, ich will auch Orchestermusiker werden!“

Jedes Kind hat zusätzlich zum Einzelunterricht im Abstand von etwa drei Wochen samstags auch noch Gruppenunterricht und Zusammenspiel. Ohne zusätzliche Kosten für die Eltern. Alle bleiben an diesen Samstagen bis zum Ende zusammen, denn dann spielen einzelne Kinder vor und alle hören zu. Das regt an. Die Fortgeschrittenen werden zu Vorbildern für die Anfänger, alle werden an das Konzerte-Hören gewöhnt und das Zusammensein von Groß und Klein schweißt zusammen und macht stark.

Jedes Kind ist musikalisch

Wie bei allen guten Lehrern geht es nicht immer nur um die Sache. Jedes Jahr gibt es bei Petersens das große Sommerfest in Haus und Garten. Dreißig bis vierzig Kinder und deren Eltern erscheinen. Auch bei Regenwetter. „Den Schmutz im Haus werden wir schon wieder los.“ Spiele wie zu Omas Zeiten, Perlen auf Ketten ziehen, Leckereien, eine Tombola mit heißbegehrtem Kleinkram, den Frau Petersen gern loswerden möchte, aber auch Musikvorspiele. „Jetzt hat X zum ersten Mal vorgespielt!“ Applaus der großen Runde. Am Ende ein Gruppenfoto, für das alle extra Instrument und Konzertkleidung mitgebracht haben. Auch das gibt Gruppenzusammenhalt und Selbstbewusstsein. In der nächsten Unterrichtsstunde erhalten alle das Foto. Die Kinder hängen es sich in ihren Zimmern an die Wand.

Einmal spielte Frau Petersens Kinderorchester im Rathaus. Direkt vor ihnen saßen die Granden der Politik, Bürgermeister, Bürgerschaftspräsidentin, Senatorinnen, alle mit offiziellem Gesicht. Unvergesslich die Verunsicherung auf den Gesichtern der Politiker, als diese Kinder so ehrlich, innig und so gemeinsam musizierten. Überrascht und berührt waren sie, die Pokerfaceleute.

Ein Unterrichtsbeobachter (befremdet?): „So lernt ja jeder das Geigen!“ Marianne Petersen: „Jedes Kind kann Geigen lernen und jedes Kind ist musikalisch. Hiervon kann man getrost ausgehen.“ Und wie soll man lernen? „Alle Kinder auf der Welt lernen sprechen, und zwar über das Gehör, ganz gleich, wie kompliziert die jeweilige Muttersprache ist. Wenn im Geigenunterricht von Anfang an hörend geübt, also wirklich Musik gemacht wird, kann es nicht ausbleiben, dass die Kinder die Musikalität finden, die sie in sich haben.“ Die Töne werden mit dem Ohr gesucht. Dieses hörende Geigenspiel klingt von Anfang an ausdrucksvoll und schön. Kein Ärgernis für das Ohr. Ein Nichtmusiker: „Ich verstehe nichts von Musik. Aber dass ihr gut seid, das höre ich auch.“

Marianne Petersen, Jahrgang 1939, unterrichtete an der Staatlichen Jugendmusikschule Hamburg Violine und Bratsche im Einzel- und Gruppenunterricht sowie Kammermusik. Sie war eine der Ersten, die in einer Schule Streicherklassen unterrichtete. Über vier Jahrzehnte leitete sie ein meist 50-köpfiges Kinderorchester. Seit 1986 war sie Dozentin, später Professorin für Violinpädagogik an der Hochschule für Musik und Theater in Hamburg. Sie engagierte sich in der ESTA und im Rahmen von ERASMUS in Lissabon, London und Helsinki und leitete zahlreiche Fortbildungskurse an Hochschulen und Musikschulen. Veröffentlichungen (Auswahl): Violinschule für Kinder (Möseler); 106 Etüden für den Violinunterricht (Möseler); Der Geigenstern. Violinschule für den Gruppenunterricht. Ein Kursus für das erste Jahr (Bärenreiter); Lara kann geigen. Berichte aus dem Violinunterricht. Ein Beitrag zur Violindidaktik (Heinrichshofen). Aus ihrem Schülerkreis gingen unter anderem hervor: Michael Mücke (Trio Fontenay Hamburg, Deutsches Sinfonieorchester Berlin); Jens Oppermann (Auryn-Quartett Köln); Daniel Gaede (Gaede-Trio, Trio Cécile, Wiener Philharmoniker bis 2001, seither Professor an der Hochschule für Musik Nürnberg), Heime Müller (Artemis-Quartett Berlin bis 2007), Barbara Bultmann (Ensemble Resonanz).

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