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Soll ich das Chaos loben?

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Eine deutsch-deutsche Dialogkomposition nach 30 Jahren
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1968. Das Jahr der Studentenrevolten in Frankreich und Westdeutschland, der blutigen Niederschlagung des Prager Frühlings, der Ermordung Martin Luther Kings und des Attentats auf Rudi Dutschke, einer neuen Verfassung in der DDR, der Sprengung der Leipziger Universitätskirche und das Jahr des 1000jährigen Jubiläums des Meißner Doms. In dieser politisch so angespannten Situation sollte in Meißen eine deutsch-deutsche Dialogkomposition uraufgeführt werden, die Staat und Kirche in Atem hielt.

Zur Geschichte: Der Domkantor Erich Schmidt setzte sich seit seiner Amtseinführung im Jahr 1950 für die Aufführung zeitgenössischer sakraler Musik im Meißner Dom ein. Zur 1000-Jahrfeier des Domes wollte er aus Dankbarkeit über die Verschonung der alten Domstadt im zweiten Weltkrieg ein Tedeum aufführen. In der Musikszene der DDR glaubte Schmidt keinen Komponisten zu finden, dem die neue Musiksprache, wie sie ihm vorschwebte, vertraut war. So griff er auf seine freundschaftliche Beziehung zum Bärenreiter-Verlag und dessen Leiter Karl Vötterle zurück. Anläßlich der Kasseler Musiktage 1964 trug er ihm sein Anliegen vor und Vötterle empfahl den jungen Wolfgang Hufschmidt für diese Komposition. Dieser reiste nach Meißen, um einen Eindruck vom Meißner Dom zu erhalten. Als er diesen betrat und sich auch ein akustisches Bild von ihm machte, war es für ihn entschieden: dieses Symbol Stein gewordener Institution Kirche sollte eine eingefrorene Hymnik hervorbringen, die leicht bröckelt und die durch eine antiphonale Form zum Ausdruck gebracht werden muß. Rede und Gegenrede sollte im Raum stehen. Die Antiphonie sollte also auch im Text vorhanden sein. Historisch-biblisch-liturgische und aktualisierte Texte sollten sich gegenüber stehen. Für den Gegentext konnte Hufschmidt Günter Grass gewinnen. Nun war das Maß für Kirche und Staat voll. Einerseits befürchteten kirchliche Kreise, den „Teufel in die Kirche“ zu holen, andererseits war das Betätigungsfeld der Staatssicherheit ob der beiden west-deutschen Akteure wesentlich erweitert. Wie groß das Ausmaß der Bespitzelung in dieser „Angelegenheit“ war, ist heute noch nicht abzusehen. Für die Meißner Kantorei begann eine Arbeitsphase, die keiner der Mitwirkenden je vergessen wird. Erich Schmidt studierte zuerst den liturgischen Teil noch ohne Orchesterpart mit der Meißner Kantorei ein. Der Orchesterpart, den Mitglieder des Gewandhausorchesters übernahmen, der Antitext und die dazugehörigen Noten standen erst später zur Verfügung. Nach und nach wurden alle Teile des Antiphons in die DDR geschmuggelt (einer der Schmuggler war Aurèle Nicolet, der für die DDR-Behörden jenseits von Gut und Böse stand). Die Idee Hufschmidts, den Antipart von westdeutschen Interpreten bestreiten zu lassen, sozusagen ein Ost-West-Stück aufzuführen, war nicht zu realisieren. Fast 30 Jahre später war es möglich. Unbehelligt und unkontrolliert reisten Anfang Oktober der Chor und das Orchester der Folkwang-Hochschule, deren Rektor Wolfgang Hufschmidt bis zum vergangenen Jahr war, von Essen nach Meißen, um am Tag der Deutschen Einheit das Meißner Tedeum zum zweiten Mal an diesem Ort zu Gehör zu bringen. Wiederum auf Initiative des hochbetagten aber nicht minder agilen Erich Schmidt. Die Konflikte der Gegenwart, wie Arbeitslosigkeit, Umweltkatastrophen, Glaubenskriege, Hunger und die allgemeine Tendenz der Menschen, ihren Glauben zu verlieren, machen die Aussage des Meißner Tedeums nach wie vor aktuell. Hartmut Haenchen, Bariton und Leiter des Antichores im Jahre 1968, übernahm die Leitung der Aufführung. Für die Studenten war das Einstudieren des Meißner Tedeums zweifelsohne eine Bereicherung. Wer 1968 noch nicht geboren war, konnte lernen, mit seiner unmittelbaren Geschichte besser umzugehen. Auf das Publikum wirkte die Raum-Klang-Komposition heute nicht mehr so befremdend und gewöhnungbedürftig wie 1968. Von Vorteil für sie war der vorliegende Text, der dem Rezipienten der Uraufführung wohlweislich vorenthalten wurde. So konnten nur wenige den Grass’schen Text vernehmen, der durch ein Zuspielband teilweise bis zur Unkenntlichkeit verzerrt war. Das Band fungierte als Bindeglied zwischen den beiden komplementär besetzten Gruppen (großer Chor, Sopran, Streicher, Orgel im Altarraum und kleiner Chor, Bariton, Bläserquintett, Klavier auf der Westempore des Domes). Als kompositorisches Mittel durchaus verständlich, doch für das 68er Publikum sicher befremdend. So konnten weder die Hörer mit Dienstauftrag und übergroßen Ohren die Grass’schen Worte „immerrecht hat die Partei“ noch die Vertreter der Kirche die Frage „Wer hat dem lieben Gott das Konzept versaut?“ vernehmen. Die kontrapunktische Spannung des Stückes blieb damals wie heute offen, keiner der Antipoden trägt einen Sieg davon. Das Tedeum schließt mit „Amen“, im Gegentext schreit der Bariton hilfesuchend „Nema“. Die Widersprüche bleiben ungelöst!

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