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Tantalos in der Webcam-Welt

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Musik bewegt – zum 2. Internationalen Musikpädagogischen Wettbewerb in Mainz
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Für etwa 85 Prozent der Jugendlichen in Deutschland ist Schulmusikunterricht die einzige Möglichkeit, sich für Musik und ihre verschiedenen Stile zu sensibilisieren. An den Schulen wird diese Chance allzu oft verkannt. Die Musikstunde wird zum Nebenschauplatz degradiert, häufig fehlt es an inspirierenden Unterrichtskonzepten. Doch es geht auch anders: Drei Musikpädagogen aus Niedersachsen und Bayern haben Projekte entwickelt, mit denen sich Musik spielerisch und im wahrsten Sinne des Wortes leichtfüßig vermitteln lässt. Beim 2. Internationalen Musikpädagogischen Wettbewerb in Mainz wurden ihre Konzepte zum Thema „Musik und Bewegung“ Anfang November ausgezeichnet.

Schule macht manchmal Spaß ...“, singen etwa 80 Grundschülerinnen und -schüler ihren Eltern vor. Die Töne zum Lied haben sie mit Hilfe der Relativen Solmisation gelernt. Basierend auf einer Art Code-System des italienischen Mönchs und Musiktheoretikers Guido von Arezzo aus dem 11. Jahrhundert werden Tonhöhen in die Silben do-re-mi-fa-so-la-ti-do und gleichzeitig in bestimmte Armbewegungen und Handzeichen übersetzt: Ein „do“ etwa entspricht einer vor dem Körper geballten Faust, ein „re“ ist die schräg nach oben gestreckte Hand, ein „ti“ der nach oben ausgestreckte Zeigefinger – unabhängig von der jeweiligen Tonart. Das Auge singt sozusagen mit. Jenseits von abstrakter Theorie lernen die Kinder so über ihre Bewegungen Tonhöhen und -stufen zu unterscheiden, entwickeln eine innere Tonvorstellung, was sie sich dann gegenseitig spielerisch anhand von Melodie-Diktaten und kleiner Eigen-„Kompositionen“ demonstrieren können.

Seit 2000 bietet die Geigenlehrerin Marie-Luise Jauch von der Streicherakademie Hannover ihr Konzept „Lernen durch Musik und Bewegung“ als außerschulische Wochenendkurse oder Projektwochen an – gemeinsam mit ihren Kolleginnen und Kollegen Carolin Ladda (relative Solmisation), Christine Etzold, Raphaela Martens (Singen und Tanzen), Andrea Schneider, Matthias Entrup (Rhythmus) sowie dem Tai-Chi-Lehrer Sven Angersbach.

Denn Teil des Wochenplans aus Solmisations-Singen, „normalem“ Lied-Singen, Tanzen und Rhythmik ist auch Unterricht in Tai-Chi-Chuan. Durch die fließenden energetischen Arm- und Handbewegungen dieser alten chinesischen Bewegungs- und Kampfkunst, das tiefe Atmen und die Gewichtsverlagerungen von einem Bein auf das andere finden die Kinder nicht nur ihren eigenen Rhythmus, sondern auch die innere Balance, entspannen sich und werden offen für neue Anregungen.

Nach einer Woche aus Musik und Bewegung pur werden die erarbeite-
ten Kursinhalte den Eltern vorgeführt, was zusätzlich das Selbstbewusstsein der Kinder stärkt. Mehr als 1.500 Grundschülerinnen und -schüler im Raum Hannover/Celle haben bereits nachhaltig von diesen Projektwochen profitiert, die man auch bundesweit buchen kann. Für das vielseitige Konzept, durch das viele Kinder überhaupt erst zum Singen angeregt wurden, haben Marie-Luise Jauch und ihre Kollegen beim Mainzer Musikpädagogischen Wettbewerb „Musik und Bewegung“ im November einen der zwei 2. Preise bekommen, die mit jeweils 1.250 Euro dotiert waren. Gesucht wurden innovative, methodisch fundierte und in der Praxis erprobte Konzepte, die aus verschiedenen Bereichen der musikalischen Bildung sowie aus interdisziplinären und transdisziplinären Kontexten stammen konnten.

Disziplinenübergreifend und -vereinend ist auch das Konzept, das der Schulmusiker Dr. Lars Oberhaus, der Innenarchitekturstudent Sascha Kruse und Thade Buchborn, derzeit Assistent an der Universität für Musik und darstellende Kunst in Wien, für eine 12. Klasse des Schiller-Gymnasiums in Hameln ausgearbeitet haben.

Sie bringen Musik sozusagen ans Licht: 23 Schüler stehen in einer lauen Sommernacht draußen auf einem groß en Feld, halten Knicklichter in ihren Händen und tanzen zu Mahlers 9. Sinfonie. Nach einer gemeinsam erarbeiteten Choreographie folgen die Schüler der Musik und ihren Parametern. Instrumentengruppen werden farblich unterschieden: Die Schüler mit den roten Knicklichtern etwa folgen der Streicher-Stimme, die Tänzer mit den grünen Knicklichtern der Bläsergruppe, Schüler mit blauen Knicklichtern ertanzen bestimmte wichtige Soloinstrumente wie etwa die Flöte im 1. Satz.

Der „Lichtertanz“, in den Verdichtungen und Entspannungen der Musik ebenso einfließen wie die eigenen Emotionen, wird mit einer Digitalkamera festgehalten, die auf Langzeitbelichtung eingestellt ist. Die Fotos werden später am Computer aneinandergereiht und zu einem Breitbandfoto zusammengeschnitten: Eine „Lichtpartitur“ entsteht, die sich nun mit Mahlers Partitur vergleichen lässt.

Das Pionier-Projekt ist mannigfaltig variierbar: Statt emotionalem Ausdruck der Musik zu folgen, könnten die Schüler sich auch nach analytischen Gesichtspunkten bewegen, bestimmte Themen und Motive ertanzen. Statt Mahlers 9. könnten sie auch Dux und Comes einer Bach-Fuge zum Leuchten bringen. Statt des großen Feldes, das Lars Oberhaus nur mit einigem bürokratischen Aufwand organisieren konnte, tut es auch eine abgedunkelte Turnhalle oder die Schulklasse. Statt Knicklichtern, die man in Angelhobbyläden oder im Internet erstehen kann, lassen sich auch Taschen- oder Fahrradlampen einsetzen. Die emotionale und analytische Struktur komplexer Musikpartituren durch Bewegungen einmal ganz anders beleuchten – Lars Oberhaus und seinen Kollegen ist in Hameln ein spannendes Projekt von hohem ästhetischen Reiz gelungen.

Schön anzusehen ist auch der Tanz einiger Schülerinnen des 11. Jahrgangs am Bernhard-Strigel-Gymnasium in Memmingen. Inspiriert von den natürlich fließenden, gefühlsbetonten Bewegungen der Ausdruckstänzerin Isadora Duncan ertanzen sie in ihrem Musiksaal die antike griechische Sage von den „Qualen des Tantalos“, der von den Göttern, die er beleidigt hat, im Hades mit ewigem Durst, Hunger und Todesangst bestraft wurde. Verschiedene Tanzgruppen, welche die Leiden und Unterweltorte verkörpern, treten mit der Tantalos-Solistin in tänzerische Zwiesprache. Die Bewegung ist Teil des Projekts „Komponistenwerkstatt des 21. Jahrhunderts – Musik zwischen Ordnung und Zufall“, das der Studienrat Christoph Pfaffendorf entwickelt hat, um seinen Schülern einen Zugang zur Neuen Musik und zu neuen technischen Mitteln zu eröffnen.

Denn die Schülerinnen tanzen zwischen einigen Webcams umher, die mit einem Computer verbunden sind, auf dem ein Raumüberwachungsprogramm installiert ist. Die Webcams sind so präpariert, dass sie bestimmte Klangbausteine auslösen, sobald die Tänzerinnen anfangen, sich in den sogenannten Überwachungskorridoren zu bewegen. Je nachdem, an welcher Stelle im Raum sie tanzen, erklingen eine oder mehrere der sieben zweitaktigen Kurzkompositionen, die sie zuvor gemeinsam mit Christoph Pfaffendorf am Computer erstellt haben. Trotz abgesprochener Choreographie komponieren die Schülerinnen nach dem Zufallsprinzip oder der Aleatorik ihr Stück also immer wieder neu – über ihre Bewegungen.

Bei der musikalischen Umsetzung ging es ihnen vor allem um die psychischen Auswirkungen, welche die Qualen und der Hades auf Tantalos haben: Sein Hunger nach Erlösung wird ausgedrückt in einer aufsteigenden, tonalen Akkordreihe, die unaufgelöst auf der Septime endet, die wachsende Ausweglosigkeit im Göttergefängnis Tartaros erklingt in chromatisch aufsteigenden Cluster-Triolen. Die Isolation im Dunkel der Erdentiefe Erebos dämmert in den ewig gleichen Akkordbrechungen von 32tel-Figuren vor sich hin.

Auch dieses Projekt lässt sich beliebig variieren. Die Klangbausteine können am Computer verändert und dem jeweiligen Unterrichts-Thema angepasst werden. Grundkenntnisse der Musiktheorie lassen sich spielerisch erlernen: Die Schüler können etwa Tonfolgen, Tonstufen, bestimmte Rhythmusmuster oder auch eine Art Notendiktat „erlaufen“, sie können ein Musikstück „zerstückeln“ und im Ablauf wieder richtig zusammensetzen, sie können in einer Art Hindernisparcours bestimmte Töne auslösen, indem andere übergangen werden, Zusammenklänge finden, komponieren. Für sein einfallsreiches, technisch aufwendiges Projekt hat Christoph Pfaffendorf in Mainz den 1. Preis erhalten, der mit 2.500 Euro dotiert ist.
Innovation und Inspiration – der 2. Internationale Musikpädagogische Wettbewerb „Musik und Bewegung“, der initiiert wird von der Gesellschaft der Freunde und Förderer des Peter-Cornelius-Konservatoriums der Stadt Mainz e.V. und der Music Academy For Generations, bringt Schulmusik-Konzepte jenseits von Konvention und Langeweile ans Licht. Die drei ausgezeichneten Projekte machen deutlich: Musik bewegt und bringt Schüler in Bewegung. So macht Schule tatsächlich manchmal Spaß.

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