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Ungestüme Vestalin: die künstlerische Leiterin der Camerata Bern Patricia Kopatchinskaja. Foto: Marco Borggreve
Ungestüme Vestalin: die künstlerische Leiterin der Camerata Bern Patricia Kopatchinskaja. Foto: Marco Borggreve
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Verzauberung durch Kunstreligion

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Das Konzert „Zeit und Ewigkeit“ der Camerata Bern und ihrer neuen Leiterin Patricia Kopatchinskaja
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Sie sieht sich nicht als Leiterin, sondern als Primaria inter pares des von ihr neuerdings angeführten Streicher-ensembles, das sie am 8. September in der Französischen Kirche der Stadt an der Aare mit einem eigenwilligen Programm, betitelt „Zeit und Ewigkeit“, präsentierte: der Camerata Bern. Patricia Kopatchinskaja, energiegeladene und fantasiebeflügelte Geigerin aus Moldawien mit Schweizer Wohnsitz, sucht seit jeher die ungewohnten Formate und spannungsvollen Seitenpfade jenseits des normalen Konzertbetriebes mit seinem Bach-Beethoven-und-Brahms-Kanon. In den dynamischen Musikern der Berner Gruppe scheint sie mit ihren visionären Konzepten, die das Ausgetretene meiden und das Risiko wollen, auf bereitwillige Resonanz zu stoßen.

Zwei Violinkonzerte des 20. Jahrhunderts mit Ausnahmecharakter bilden das Zentrum: das „Concerto funebre“ von Karl Amadeus Hartmann und die Yehudi Menuhin gewidmete „Polyptyque“ für Violine und zwei kleine Streichorchester von Frank Martin – eingebettet in eine Programmfolge von Musiknummern, die auf die beiden Werke verweisen und sie politisch wie religiös kommentieren. So dient das einleitende „Kol Nidre“ (Jüdisches Gebet am Jom Kippur) des einstigen Free-Jazz-Musikers John Zorn buchstäblich der Einstimmung der durch das Kirchenschiff wandelnden, das E intonierenden und dadurch raumöffnenden Berner Streicher, in deren Mitte die Solistin schreitet. Der naive Terzengesang wendet sich in den schon von Smetana, Dvorák und Janácek zitierten Hussitenchoral des Hartmann-Konzertes.

Kopatchinskaja geht ganz im Lamentostil des als Kriegsahnung konzipierten Werkes von 1939 auf, in dem auf Wunsch des Komponisten jede Note „durchfühlt“, jede Zweiunddreißigstel-Pause „durchgeatmet“ werden soll. Mit bohrender Intensität gelingt der Solistin in hautnahem Zusammenspiel ihres Ensembles die apokalyptische Ausdrucksgewalt des Allegro molto, dessen hämmernde Motorik zwischen Hindemith (Hartmann zitiert dessen „Trauermusik“)und Bartók leicht dröge wirken kann. Das im verhauchenden Epilog angedeutete „Eliyahu hanavi“-Gebet ertönt anschließend vokal aus dem Altarraum, gefolgt von den „Unsterblichen Opfern“, von Hartmann ebenfalls zitiert. Bei diesem von polnischem Frauenterzett in Trachtengewand angestimmten Revolutionslied wird dann doch der schmale Grat zwischen Polit-Pathos und Folklore-Kitsch leicht überschritten.

Nach der Zeit die Ewigkeit: Patricia Kopatchinskaja mag keine Pausen, da spannungsmindernd, hier jedoch ist die Pause unvermeidlich, denn die Kirchenbänke werden umgestellt, und man bespielt nun das Podium im Altarraum. Das ist klug erdacht, denn der zweite Teil des Konzertes bewegt sich in Spiegelfunktion zu den Schreckensvisionen des ersten. Der Rück- beziehungsweise Ausblick in die Ewigkeit gilt der Passion Christi – in den Bildern Duccio di Buoninseg-nas wie in der Musik Frank Martins. Die sieben Retabeln aus der Maestà des Doms zu Siena werden jeweils zu den Sätzen auf einen weißen Vorhang projiziert und bilden einen spannungsvollen Kontrast zu dem chromatischen Espressivo des Violinkonzertes. Martins protestantische Schmerzgeste geht nicht in der Farbigkeit Duccios auf, wie etwa Respighis „Kirchenfenster“ oder Bohuslav Martinus „Fresken“ zu Piero della Francesca; sein mal kantiger mal elegischer Stil reibt sich an den Bildern, und Kopatchinskaja nebst Camerata unterstreichen durch zupackende Hingabe des Spiels die Herbheit des Ausdrucks vom Einzug Jesu über das Abendmahl, das Judas-Scherzo, die Gethsemane-Einsamkeit bis zur Verklärung der Glorification, wo der sonst pfeilgerade Geigenton der Solistin im Pianissimo-Flageolett engelsgleich entschwebt.

Die fehlende Kreuzigung Christi weitet sich dramatisch durch das Crux für Violine, Pauken und Röhrenglocken des tschechischen Filmkomponisten Lubos Fiser: ein in stetem Crescendo der Geige zum Paukenostinato in Glockenklang explodierendes Stück Leidensgeschichte. Eingerahmt wird das Solokonzert durch ein Kyrie von Machaut und den Bachchoral „O große Lieb“.

Wenn Kopatchinskaja mit ihren Worten Musik nicht als Asche, sondern als Feuer deutet, dann waltet sie als ungestüme Vestalin in deren Dienst, zelebriert Kunst als Religion und umgekehrt. Nach Ekstasen und Eskapaden reiht sie sich bescheiden unter dem Beifall des sichtlich überraschten Berner Publikums in ihr famoses Ensemble ein.

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