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Vom aberwitzigen Lachen über den Tod

Untertitel
Die neue Produktion der Tanzcompagnie „Drift“ mit Musik von Helga Pogatschar in München
Publikationsdatum
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München – Elastisch explodieren die Töne, die aus den Boxen kommen, elastisch bewegen sich die drei Menschen, zwei Frauen, ein Mann. Aber was heißt da schon elastisch? Die drei Menschen, die sich bewegen, tun dies auf kaum nachvollziehbare Weise, nämlich mit einer schwer zu fassenden Mischung aus extremer Präzision: Winzige Gesten werden hart und exakt ausgeführt. Start – Stop, nichts dazwischen, nichts Unsauberes, kein Hineintrudeln, kein Aufwärmen. Zack.

Die Bewegungen im Mini-Ensemble sind selbst schon Musik, Fuge und Kontrapunkt. Mal laufen sie parallel, mal nacheinander ab, mal kommentieren sie sich, mal führt die eine Bewegung die andere fort, mal fordert die eine die andere heraus. Viel Kraft ist dabei, die man nicht merkt, aber deutlich spürt: in den Zeitlupenszenen, in Standbildern der Körper in komplett aberwitzigen, wiederum nicht nachvollziehbaren Posen. Und dann sind sie noch total charmant.
Die Tanzcompagnie „Drift“ hätte das Lachen erfunden, wenn die Menschheit nicht schon eine vage Ahnung gehabt hätte. Béatrice Jaccard und Peter Schelling machen seit vielen Jahren abenteuerliche Aufführungen und sind immer wieder erstaunt, dass ihr Schweizer Publikum aus dem Lachen durchaus herauskommt. Wie, ist schleierhaft. Die neue Produktion haben „Drift“ zusammen mit der Münchner Komponistin Helga Pogatschar entwickelt. Sie heißt „cadavres exquis“, was man als „köstliche Leichen“ übersetzen könnte. Da ahnt man bereits, wohin es geht. In Fribourg war die Arbeit schon zu sehen, nun war sie im „Schwere Reiter“ und im Tanzhaus Zürich zu Gast, vom 14. bis 16. April wird sie in Basel zu sehen sein.

Es geht ums Lachen über den Tod, auf völlig aberwitzige Weise. Manchmal stellen Jaccard, Judith Rohrbach und Morca Volta Stummfilmsequenzen nach, dramatische Showdowns, B-Horrormovie-Szenen, blankes Entsetzen und kümmerliche Selbstmordversuche. Beredte Leiber erzählen vom Schrecken, herrliches Körpertheater ist das. Daneben belebt ein phantas­tisch miteinander musizierendes, die Szene durchwirkendes Streichquartett aus erlesenen Musikern (in München sind dies Joe Rappaport, Luciana Beleaeva, Gunter Pretzel und Graham Waterhouse) den grinsenden elektronischen Klangkosmos. Pogatschar schreibt Kitsch, ohne kitschig zu werden, schreibt Minimal Music, die im ges­tischen Gehalt riesengroß ist. Ein vorsichtiger Walzer noch, Menschen, die sich wie Seeanemonen in sanfter Strömung wiegen, schon ist er wieder aus, der Lachtagtraum.

Für Pogatschar war diese Arbeit eine wunderbare Gelegenheit, ihre niederen Instinkte auszuleben. Dies bedeutet: ihre Liebe zum Überschwang. Freilich klingt das bei ihr stets ein wenig absonderlich – ein hohler Gehalt, wie er ja zum Kitsch gehört, ist bei ihr immer mit einem Lachen erfüllt. Pogatschar kann ohne jede Eitelkeit Gebrauchsmusik schreiben, ohne ihren künstlerischen Anspruch dabei aufzugeben. Am deutlichsten merkte man dies bislang in ihren szenischen Stücken für Kinder. Aber vielleicht ist der Weg von diesen zur Zusammenarbeit mit „Drift“ gar nicht weit.

Die unverhohlene Gelassenheit im Umgang mit dem Ausstellen von Dramatik, die der Arbeit der Tanzcompag­nie innewohnt, findet ihr Pendant in der Souveränität, mit der Pogatschar nur scheinbar altmodische Formen wie ein Streichquartett in einen elektronisch angereicherten, neuen Zusammenhang bringen kann, der schwerelos Elemente avancierter und populärer Musik vereint und der traditionellen Filmmusik ein Grinsen zuwirft. Und doch ist dies vom erstes Ton an reine Pogatschar-Musik.
 

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