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Ein ukrainisches Volkslied mit neuem Text zum Üben von Imperativ-Verbformen und anderem. Zu finden unter:  https://youtu.be/izSBO4jnvQ0. Foto: Hannah Heißler
Ein ukrainisches Volkslied mit neuem Text zum Üben von Imperativ-Verbformen und anderem. Zu finden unter: https://youtu.be/izSBO4jnvQ0. Foto: Hannah Heißler
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Wie Kriegsflüchtlinge die Schullandschaft verändern

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Musik verbindet, heilt und hilft sogar, eine Sprache zu lernen
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Sehr schnell veränderte im Februar ein plötzlicher Angriffskrieg auf die Ukraine auch unser Leben in Deutschland. Nicht nur die Faschingsumzüge, Rapsöl-Lieferungen und die Inbetriebnahme einer Pipeline wurden abgesagt. Bereits im März wurde Aleksandra (Namen wurden geändert) als erstes ukrainisches Mädchen an unserem Kleinstadt-Gymnasium angemeldet, um Deutsch als Zweitsprache zu lernen und baldmöglichst dem Regelunterricht folgen zu können. Die Lernerfolge ihrer ersten Wochen waren immens: „Waruum ‚das‘ Mädschen, nischt ‚die‘ Mädschen?“, fragte sie noch vor den Osterferien.

Im laufenden Sommerhalbjahr nahm die Eberbacher Schullandschaft Dutzende weitere Kinder und Jugendliche auf, denen gemein war, dass sie zusammen mit ihren Müttern, eventuell ihren Geschwistern, aber ohne ihre Väter kamen und als Erstsprachen Russisch und Ukrainisch angaben. Viele kamen aus dem Osten der Ukraine, alle flohen vor dem Krieg. Manche kommen aus Städten, deren Namen uns inzwischen aus den Nachrichten geläufig sind – oft im Zusammenhang mit Kriegsmeldungen. Dennoch warten viele nur sehnsüchtig darauf, bald wieder nach Hause ziehen zu können

Wer sind die neuen Mitglieder unserer Schulgemeinschaft?

Zunächst war das Erstaunen in den verschiedenen Lehrerkollegien groß: Ivan und einige andere Grundschulkinder waren bereits in der Lage, mit Sätzen wie „I want drink!“ und „Can I go to de toilet?“ überlebenswichtige Anliegen auf Englisch zu formulieren, ein Teil der Jugendlichen brachte sogar ein bisschen Vorbildung in der deutschen Sprache mit, und rund ein Viertel der jungen ukrainischen Zugewanderten in unserem Städtchen hatte zu Hause ein Instrument erlernt, meistens Klavier, Gitarre oder Geige. Eine gewisse kulturelle Nähe wurde schnell deutlich. Die Hoffnung war groß, viele der Kinder und Jugendlichen bald zu höheren Schulabschlüssen begleiten zu dürfen.

Geblendet von dieser Hoffnung fiel erst ein bis zwei Monate später auf, dass es sich hier um ganz normale Teenager handelt, von denen einige mit der gleichen Vehemenz wie ihre hier geborenen Altersgenossen die Kaugummi- und Handyverbote unterwandern, und bisweilen schwänzt oder verschläft jemand sogar die ein oder andere Pflichtunterrichtsstunde.

Erst beim genaueren Hinsehen wird dann bei so manchem Kind oder Jugendlichen wahrnehmbar, dass hier neben gelegentlicher altersangemessener Lethargie auch andere Faktoren solches Verhalten ausgelöst haben können: Die Mädchen und Jungen leben jetzt hier in Deutschland in Frieden. Ihre Väter, bisweilen auch ihre großen Brüder blieben im Herkunftsland zurück und sind mehr oder weniger alle in den Krieg involviert. Familien haben sich entzweit in der Hoffnung, irgendwann wieder vereint leben zu können. Beunruhigungen und Ängste, Trauer und Wut über Nachrichten von zerstörerischen Angriffen – dies alles kontrapunktiert den normalen Schulalltag zwischen Vorbereitungs- und Regelklasse, zwischen DaZ- und Fachunterricht, ohne dass eine echte Komposition, also irgendein tieferer Sinn in diesem dissonanten Zusammenspiel erkennbar wird. Es belastet einfach nur viele unserer jungen Seelen immer wieder zusätzlich und äußert sich auf verschiedene Weisen, für Lehrkräfte natürlich nicht immer sofort erkennbar. Manchmal teilen sich die Schülerinnen und Schüler auf Englisch oder mit ihren ersten Deutschkenntnissen mit, vertrauen sich einer Lehrkraft an oder weinen einfach los, so wie Kateryna eines Tages im Unterricht: In der Nähe ihres Vaters seien in der Nacht zuvor Bomben detoniert, so übersetzte es Aleksandra für die Lehrkraft. Er selbst habe überlebt, viele anderen haben es aber nicht. Der Schock saß noch tief. Unterricht war erst einmal nicht mehr möglich. Manche werden aggressiv. Andere sitzen antriebs- und teilnahmslos im Unterricht oder fehlen einfach ganz. Auch die Schulsozialarbeit oder gezielte Therapieangebote außerhalb der Schule sollen im Bedarfsfall nicht vorenthalten werden. Erfreulicherweise gibt es inzwischen in größeren Städten solche Angebote sogar in verschiedenen Sprachen, zum Beispiel beim PSZ Nordbaden.

Was brauchen die neuen Mitglieder unserer Schulgemeinschaft?

Natürlich sind verbindliche Regeln dennoch wichtig für die Heranwachsenden, aufgestellt, mitgeteilt und eingefordert von Lehrkräften, die zu Bezugspersonen für die Kinder und Jugendlichen werden. Die Offenheit und Aufnahmebereitschaft, die ausgestreckte Hand von Kameradinnen und Kameraden in den Regelklassen kann für einen Menschen Gold wert sein in einer Zeit, in der die ganze Umgebung neu und der eigene Lebensweg vor allem von Ungewissheit durchdrungen ist. Nur muss es Wege geben zu kommunizieren. Je besser die deutsche Sprache verstanden und gesprochen wird, desto eher wird das einst Fremde in der neuen Umgebung zu Vertrautem, desto besser ist jemand hier angekommen, kann verstehen und sich mitteilen, sei es im sozialen Miteinander, auf Behördengängen oder auch im Fachunterricht der Regelklasse. Natürlich wirkt der Kontakt zu anderen Mädchen und Jungen aus dem gleichen Herkunftsland, der gleichen Erstsprache und ähnlichen Schicksalen erst recht stabilisierend in so einer Situation.

Musikalische Anschlussförderung

Bei all dem soll jetzt das verbindende und heilende Element der Musik nicht außer Acht gelassen werden. Natalia, eine Achtklässlerin ohne Deutsch- aber mit Klavierkenntnissen lief einmal kurz nach ihrer Ankunft am Hohenstaufen-Gymnasium ihren Klassenkameradinnen hinterher in eine Musikprofilklasse, und die Lehrerin verstand es, das Mädchen geschickt in den praktischen Unterricht mit einzubinden. Kaum dass Natalia die Privilegien der Mitglieder des Musikprofils verstanden hatte, nämlich in Freistunden oder am Nachmittag im Musiksaal üben zu dürfen, gab es kein Halten mehr, denn seither traf sich fast die Hälfte der ukrainischen Jugendlichen regelmäßig im Musiksaal zu kleinen Jam-Sessions, teils mit, teils ohne instrumentale Vorkenntnisse, aber nie so, dass man als Musiklehrkraft Angst um die Instrumente haben musste. Zudem spielt Anastasiia ganz gut E-Gitarre und möchte in einer Schülerband einsteigen. Bei solchen Ambitionen, solchem musikalischen Potential musste natürlich etwas geschehen.

Erfreulicherweise nahm die Musikschule Eberbach schnell und unkompliziert alle interessierten ukrainischen Kinder und Jugendlichen gratis zum Instrumentalunterricht auf – ein Angebot, das weit und breit seinesgleichen sucht. Finanzielle Fördermöglichkeiten werden noch gesucht, Leihinstrumente konnten bereits gefunden werden. Aber so ist es erst einmal möglich, auch weitere musikalische Talente zu fördern, evtl. auch im Musikprofil am Gymnasium.

Spracherwerb im Sprachbad, Sprachförderung im konventionellen und im musischen Deutschunterricht

Die meisten Schulen in Eberbach arbeiten integrativ. Das bedeutet, der Zweitspracherwerb findet teilweise im Fachunterricht in Regelklassen mit einheimischen Schülerinnen und Schülern ungefähr gleichen Alters statt, zu denen im besten Fall auch persönliche Kontakte entstehen. Auch dieser Aufenthalt im sog. „Sprachbad“, auch als „Immersion“ bezeichnet, kann zunächst anstrengend sein: „Zu viele Deutsch, nix versteh’n“, klagte anfangs die kleine Xenia und hielt sich demonstrativ die Ohren zu. Aber der Lernerfolg der Immersion ist ansehnlich, sie gilt als weltweit erfolgreichste Sprachlernmethode. Auch Xenia reagiert inzwischen offener auf kurze, langsam gesprochene deutsche Sätze und versteht vier Monate später schon deutlich mehr als „nix“.

In anderen Stunden werden Zugewanderte in sogenannten „Vorbereitungsklassen“ (VKL) zusammengefasst und erhalten dort vor allem im Fach „Deutsch als Zweitsprache“ (DaZ) Unterricht auf verschiedenen Sprachniveaustufen, oftmals gleichzeitig. Das Unterrichten der verschiedenen Bereiche des Deutschen (z. Bsp. Aussprache, Wortschatz, Grammatik, für manche erst einmal das lateinische Alphabet) in einer stark alters- und leis­tungsheterogenen Lerngruppe bedarf dafür entwickelter Konzepte, etwa das „VKL-Classroom Management“.

In Zusammenarbeit mit dem an der PH Heidelberg angesiedelten Heidelberger Zentrum für Migrationsforschung und Transkulturelle Pädagogik („Hei-MaT“) entstand im Rahmen der „Interkulturellen Lernbegleitung“ das Konzept „Singend Deutsch lernen“ beziehungsweise der „Musische Deutschunterricht“, der an verschiedenen Schularten in und um Eberbach, aber nicht nur hier praktiziert wird.

Dabei lösen die Lernenden innerhalb einer Stunde je nach bereits erreichter Sprachkompetenzstufe unterschiedliche Aufgaben in den Bereichen von einfacher Semantik/Lexik über die Flexion/Morphologie, Syntax, Textverständnis bis hin zur eigenen Sprachproduktion. All diese Aufgaben vertiefen oder schaffen den Text eines Liedes, das spätestens am Ende der Stunde gemeinsam gesungen, manchmal auch szenisch dargestellt wird. Natürlich schafft solch ein musischer Abschluss einer Stunde ein Gemeinschaftserlebnis, aber er hilft auch, das sprachlich Gelernte besonders tief in das Langzeitgedächtnis zu graben und darüber hinaus Lernen mit Lebensfreude zu verbinden: „So manche Aufgabe wird hier zu einem Lied, das sich als Ohrwurm dann durch meinen Alltag zieht“, singen die Kinder im Begrüßungssong auf der neuen „Hei-MaT“-Lernplattform ­https://interkulturellelernbegleitung.online.

Oder wie es Andriy, der kurz zuvor die ihm hilfreich gewordenen grammatikalischen Regeln als „Tricks“ bezeichnet hatte, einmal formuliert hat: „Hey, das ist Aufgabe, Lied und Trick, alles zusammen!“.

Es bleibt zu hoffen, dass der Krieg bald zu Ende ist. Es bleibt aber auch zu hoffen, dass die Musik noch vielen Menschen Freude und Erfüllung gibt, vor allem dort, wo anderes zuvor verloren gegangen war. Wie lange die neuen Eberbacher hier wohnen werden, ist ungewiss. Doch dass sie längst keine Fremden mehr sind, ist auch dem gemeinsamen kulturellen Interesse zu verdanken: Musik verbindet.

  • Der Autor Hartmut Quiring ist Musik- und DaZ-Lehrer am Gymnasium, einer Grund- und einer Gemeinschaftsschule in Eberbach, Fortbildner im Fach „Deutsch als Zweitsprache“ (DaZ) am ZSL Mannheim sowie inhaltlicher Berater und Begleiter des Profils „Singend Deutsch lernen“ im Migrationsforschungszentrum „Hei-MaT“ der PH Heidelberg.

Psychosoziale Beratung und Traumatherapie für Kinder aus der Ukraine

Das PSZ-Nordbaden bietet geflüchteten Kindern und Jugendlichen in Karlsruhe, Heilbronn und Pforzheim (weitere Standorte der Einrichtung nach Bedarf) psychosoziale Beratung und Psychotherapie (Traumatherapie), unterstützt durch Landesmittel.

Für Kinder aus der Ukraine wurde aufgrund des hohen Bedarfs das Programm „Herzenssache“ ins Leben gerufen, in dem diesen Hilfe in deren Muttersprache zur Verfügung gestellt wird. Das Programm wird durch die Kinderhilfsaktion von SWR, SR und Sparda-Bank, Herzenssache e.V. und die Behandlungsinitiative Opferschutz (BIOS-BW) e.V. gefördert und ist damit kostenfrei.

Anmelden können sich Interessenten und Betroffene von Montag bis Freitag zwischen 10.00 und 15.00 Uhr unter der Telefonnummer 0721 / 47 052 105 oder per Email unter info [at] psz-nordbaden.de (info[at]psz-nordbaden[dot]de) - www.herzenssache.de

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