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Das gestreamte Konzert – Kompensation durch Extra-Simulation? Foto: Juan Martin Koch
Das gestreamte Konzert – Kompensation durch Extra-Simulation? Foto: Juan Martin Koch
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Wieviel Dream ist im Stream?

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Nachschlag 2020/09
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Corona hat es an den Tag gebracht. Seitdem liegen die Widersprüche offen. Und auch dies: wie unbekümmert wir ihnen gegenüberstehen, ja, wie sehr sie uns zur zweiten Natur geworden sind. Einmal mehr: infiziert, ohne zu wissen, dass. Ein Schadensbild, das nicht nur für den Gutachter daran ablesbar ist, wie selbstverständlich wir in der Zeit der Gespenster­konzerte den Reflexen nachgegeben haben: Kann das Publikum nicht zum Konzert kommen, dann bringen wir das Konzert eben zum Publikum.

Was es dann hört? Wie es hört? – Wieso? Gibt es da ein Problem? – Kann ich nicht im Konzert sein, dann bin ich eben dabei, wenn das Konzert gestreamt wird – am Schirm, vor meinen Lautsprechern. Was ich dann höre? Wie ich höre? – Moment mal, eine Digital Concert Hall, mein HiFi, mein Radio gehen auch nicht anders! – Kann ich nicht vom Konzert berichten, dann berichte ich eben vom gestreamten Konzert.

Sicher, wird eingeräumt: Es fehlt das „Drum und Dran“, es fehlen Austausch, Begeg­nung, das Mitschwimmen im „Soziotop der neuen Musik“. Aber sonst? „Bessere Klang­qualität als vor Ort in mieser Akustik“! Und: „Endlich Übersicht!“ Und: Voraus­gesetzt,

I have a stream auf dem neusten Stand, vorausgesetzt, ich arbeite mit Spotify, mit Netflix, steht nichts im Weg, dass ich sehen, hören, beurteilen kann, „wie Kunst gelingt“. Wo, bitteschön, soll das Problem liegen? – Weswegen mit einem Mal auch völlig normal schien, Konzertkritiken auf Streambasis einzuwerben, zu verfassen, zu liefern. Der Cyberspace als wirkliche zweite Natur. Verdinglichtes Bewusstsein hieß das früher. Ehrliche Überraschung als man höflich, aber bestimmt (gar nicht mal wegen Wackelton, Wackelbild, grotesk grottenschlechter Bildführung) die Streamkritik ablehnte. Wieso, CD-Rezensionen machen Sie doch auch?! Wo ist das Problem?

Eben darin, in der erstaunten Nachfrage! mochte man da gleich dagegenhalten. Und hatte freilich nicht viel gewonnen. Zwar ist die Pandemie als solche ein Problem, hat aber ansonsten nichts Problema­tisches hervorgebracht, das nicht schon da gewesen wäre im großen Klang- und Resonanzraum der Musik im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit, in dem wir uns nun schon so lang bewegen und um dessen verteufelte Dialektik wir uns (wahrscheinlich aus Dankbarkeit für die mitgelieferten technischen Segnungen) nicht groß bekümmert haben. Eigentlich gar nicht, muss man sagen. Komponisten, Ausführende, professionelle wie nicht-professionelle Musik­freunde haben ja kräftig mitgemacht, haben das Rad ans Laufen gebracht, in Schwung gehalten – nicht zuletzt, weil sich da plötzlich auch noch so ein schöner kommerzieller Erfolg einstellte. Von Welte-Mignon bis zur rausch- und knisterfreien Compact Disc, von Strauss bis Karajan war und ist einig Jubel, dass es gelang, zum Verwechseln ähnliche Kopien eines musizierten Konzerts zu erstellen.

Seitdem sind die Simulationen in der Welt und verhalten sich wie alle technoiden Gestelle: sie machen ihren Urhebern Konkurrenz. Diese wiederum stellen sich ahnungslos, halten daran fest, dass sie es sind, die am Schalter sitzen, Herren des Verfahrens. Woran Zweifel angebracht scheinen. Längst sind mächtige Verwertungs­interessen dazu-, dazwischengetreten, haben sich ihre Agenten gesucht und sie gefunden, nicht zuletzt unter den Urhebern. Seitdem hört es nicht mehr auf, das Auslagern von glücklich musizierten Augenblicken in Technologie, die wiederum nur durch andere Technologie zum Sprechen gebracht werden können. Es ist der Schallwandler, der erst den Mittler und sich das Ohr dann gleich dazu gefügig macht. Was ist jede gestreamte oder sonstwie reproduzierte Musik anders als Lautsprecher­musik? Die musizierten Glücksmomente, die wir darin zu hören meinen, sie ähneln dem Rauschen des Meeres, das sich in der Muschel erhalten hat. Echo von Lebendigem.

In diesem Dilemma stehen die Selbst­hilfemaß­nahmen, die musikalischen Repair Cafés in Corona-Zeiten. Sie tun so, müssen so tun, als käme Musik von Stream nicht von Dream. Vergessen scheint, dass gestreamte wie noch jede andere reproduzierte Musik in ihrem stolzen Selbstbewusstsein über die gelungene Emanzipaton von ihrer Basis darin immer gerade das Beste abtrennen muss. Eben das, was ihr Eigentliches ist, worauf sie nicht verzichten kann, will sie sich selber nicht preisgeben und will sie ihren Liebhabern, den professionellen wie den nichtpro­fessi­o­­nellen nicht den Grund ihrer Liebe rauben. Schauen wir in die zurückliegenden Monate, war es paradoxerweise gerade das so glaubensstark vorgetragene Drängen zum gestreamten Konzert, das uns vorgeführt hat, wie weit wir uns von der Basis, dem Konzertieren in Ohren- und Augenzeugenschaft, entfernt haben. Wie ist es uns bewusst geworden? Es war, es ist die Pandemie, die sich nun wirklich alle Mühe gegeben hat und gibt, die Wider­sprüche in schönster Weise freizulegen. Man könnte ihr glatt dankbar sein dafür!

Kleine Rückblende: Wie war das denn nochmal als der große Lockdown kam, als nichts mehr ging außer, dass die Stimme aus dem Off einem permanent zurief: Bleiben Sie zu Hause! Bleiben Sie gesund! – Wer sich seinerzeit, in jenen seltsamen Frühjahrstagen umhörte unter den oben erwähnten Liebhabern oder wer als Liebhaber, als Liebhaberin einfach in sich hineinhörte (das ging nämlich auch ganz gut), konnte zwei Dinge entdecken: die Freude über die gewonnene Zeit einerseits und andererseits das Bedauern darüber, dass keine Musik mehr da war? Mitnichten. Dies war ja gerade nicht das Problem. Man wurde ja versorgt. Soviel Stream war selten!

Nur, wurde man froh darüber? – Noch die aufgeräumtesten Stimmen, noch der munterste Musiker-Reporter-Hörer-Optimismus kam ja nie aus, ohne am Ende eine leise Wehmut zu Protokoll zu geben: Das nächste Jahr bitte wieder live in Jerusalem! Will sagen: in Witten, Bonn und anderswo. – Wenn es also so war, dass es gerade nicht das Problem war, dass keine Musik mehr da war – was war es dann?

Womit wir beim offenen Geheim­nis wären, dass es ein wirkliches Bedauern darüber gegeben hat und gibt, dass nicht mehr musiziert wurde und wird, um genau zu sein: dass ich beim Musizieren nicht mehr dabei sein konnte und kann, wenn andere musizieren, im Hinterhof, im Studio, im Konzerthaus, in der Konzertkirche, egal wo. Eine Leerstelle, ja, eine Trauer, der eine Trauerarbeit folgte, die den Verlust kompensierte durch ganz viel Extra-Simulation. Zu den bekannten, mehr oder weniger stillen Vermittlern, zu den Spotifys, den Netflix, dem guten alten Radio traten neue. Fast war es wie nach einem dieser Anschläge, wo der Tatort auch regelmäßig in einem Meer von Blumen, Kerzen, Bildern versinkt. Machtvoll die Anteilnahme, ohnmächtig die Anteil­nehmenden.

Nicht, dass die bereitgestellten Simulationen uns kein Hörglück beschert hätten. Natür­lich taten sie das. Wie immer schon seitdem es die technische Reproduzierbarkeit musizierter Inhalte gibt. Nur, dass auch hier das besagte Hörglück paradoxerweise darauf beruhte und beruht, dass der aufgelegte, angesteuerte, aufgerufene Musiktitel sich vom vorausgegangenen Musizierglück abgetrennt hat. Ein Widerspruch nicht erst seit Corona. Corona hat ihn nur an den Tag gebracht. Ebenso deutlich wie schmerzlich. Und damit die Erkenntnis, dass jeder Stream den ihn überhaupt erst ermöglichenden Dream schockge­frieren muss, das Glück des musizierten Augenblicks vergessen machen muss. Man kann nicht sagen, dass darüber schon abschließend verhandelt wäre.

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