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Windmühlen bauen – für artgerechte Haltung

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Der Deutsche Musikrat veranstaltete den Kongress „Musik in der Ganztagsschule“
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„Das Thema liegt sozusagen auf der Straße.“ Dass man nicht viel Neues erfahren würde, kündigte Musikratspräsident Martin Maria Krüger in seiner Eröffnungsrede an. Aber darum ging es auch nicht in den Tagen vom 20. bis 22. Mai in Königstein im Taunus. Zu einem Markstein der aktuellen Diskussion um Musik in der Ganztagsschule wird dieser Kongress dadurch, dass der Musikrat – oder der Verband Deutscher Schulmusiker durch die Personalunion von Initiator Hans Bäßler als Vorsitzendem des VDS und frisch nachgerücktem Mitglied des geschäftsführenden Präsidiums des DMR – sich damit an die Spitze der Bewegung katapultiert und mit dem abschließend präsentierten „Positionspapier Musik in der Ganztagsschule“ auch gleichzeitig – wie DMR-Präsident Martin Maria Krüger es formulierte – einen „Schlussstein des diskursiven Vorlaufs“ vorlegen möchte.

Initiativen anderer Verbände wie etwa des VdM, aber auch durch modellhaft pragmatische Vorstöße in einzelnen Bundesländern waren seit geraumer Zeit schon in Gang gekommen. Doch in Zeiten notwendiger Zuspitzung von Sachverhalten und getreu des Inszenierungskonzepts, das seinen Höhepunkt am Ende mit der Überreichung jener Resolution an die KMK-Präsidentin erreichte, verkündete Krüger: „Nach diesem Kongress geht es los.“ Doch darf das neu erstarkte Selbstbewusstsein des Musikrats zunächst einmal all diejenigen freuen, die dessen Profilierung auf dem Gebiet der musikalischen Bildung nach dem Berliner Kongress „Musik bewegt“ und dem Bildungstag der Frankfurter Musikmesse nun konsequent fortgesetzt sehen.

Nun setzte sich der Kongress mit seinen rund 300 Teilnehmern durch- aus konzentriert mit dem Verhältnis zwischen Musikunterricht und Ganztagsschule auseinander. Was beständig grundtönte, war freilich die Frage, ob es denn erst die Ganztagsschule brauche, um die Situation der Schulmusik zu bessern; war die Einsicht, dass natürlich die Ganztagsschule politisch nicht darum forciert wird, die musikalische Bildung zu heben; war auch das Problem, ob denn Ziele und Strukturen musikalischer Kinder- und Jugendbildung allein auf die (Ganztags-) Schule auszurichten seien; und war besonders aus Sicht des Berichterstatters der Zweifel, ob denn die Interessen der musikalisch zu Bildenden immer so ganz im Vordergrund stehen. Und vielleicht hätte die Schlussnote auch „das System Schule“ nicht so sehr als das Maß aller Dinge thematisieren müssen, sondern auch dieses zur Reflexion auffordern sollen: Peter Hanser-Strecker – neben der Dresdner Bank Stiftung und der Siemens Stiftung Ermöglicher dieser Tagung – nannte das beim Namen: Musik gehört unverzichtbar zur „artgerechten Haltung des Menschen“.

Ob Ganztagsschule unsere Probleme mit der Bildung lösen kann, stellte schon Katrin Höhmann, Leiterin des Ganztagsschulprojekts am Institut für Schulentwicklungsforschung der Uni Dortmund, einführend in Frage. Muss sie doch auch andere politische Fehlentwicklungen wie Eineltern- oder Doppelverdiener-Familien kompensieren, die Rekrutierung brauchbaren Nachwuchses für die Hightech-Wirtschaft von morgen betreiben und auch noch die Integration von Migranten bewerkstelligen. Auch hier macht es nicht die Struktur, nicht das System, sondern machen es die Inhalte und die Art und Weise ihrer Vermittlung. Klar wurde, dass allein die „gebundene“ Form der Ganztagsschule Verbindlichkeiten und Flexibilisierung im Stundenraster bringen kann.

Modelle aus In- und Ausland

Soll die Musik „angesichts des herannahenden Sturmes keine Hütte errichten, sondern Windmühlen bauen“, so die Parabel eines Referenten, brauche es feste Fundamente. Die Bausteine, die der Kongress an seinem ersten Tag vorstellte, schienen kaum alle dazu geeignet. Einem Beitrag über das Musikausbildungssystem in Finnland durfte man vor allem die Grundselbstverständlichkeit abgucken, mit der in diesem nordischen Land Kultur und Musik zu einem ganzheitlichen Bildungsverständnis gehören, das zuerst den Menschen in seiner Individualität in den Blick zu fassen versucht.

Roger Durston machte mit seiner Schilderung des traditionellen Ganztagsschulwesens in seinem Heimatland England wenig Hoffnungen. Es kann nicht befriedigen, dass Schüler den nachmittäglichen Geschichtsunterricht verlassen, um sich eine Geigenstunde geben zu lassen. Doch trug seine Vision einer wirklichen Reform von Schule mit flexiblen, praktisch ausgerichteten, individuelleren und dynamischeren Fördermöglichkeiten zur Utopie des Kongresses bei.

Einige Praxismodelle aus deutschen Landen hellten das Bild auf, illustrierten, dass sich – vor Ort eben – schon einiges tut und dass auch einiges geht. So stellten Volker Gerland und Rolf Kessler ein Modellprojekt des Landesverbands der Musikschulen in Nordrhein-Westfalen vor, in dem an vier Standorten Schule und Musikschule erfolgreich intrumentalpraktischen Musikunterricht an Grundschulen praktizieren: „Was wir im Grundschulalter versäumen, ist in der Sekundarstufe kaum noch nachzuho- len“. Aus Rheinland-Pfalz kam ein erfrischendes Beispiel der Kooperation einer Grundschule mit der örtlichen Blaskapelle, das mit viel gutem Willen, ehrenamtlichem Engagement und eigener und zugeholter Fachkompetenz auch Möglichkeiten der Anschlussförderung für interessierte Kinder bietet. Unbehagen hinterließ ein Marketingvorstoß der Initiative „Let’s make music“ aus der Pipeline der Musikinstrumentenimporteure, der Antworten nach inhaltlichen Fragen schuldig blieb. Dennoch wurde die Anregung zum Bandspiel in Hauptschulen angenommen.

Ein letztes Beispiel der Zusammenarbeit einer regionalen Schule mit freien Künstlern aus Rheinland-Pfalz riss das Publikum nur in einem Punkt von den Stühlen: Karl-Heinz Held aus dem Bildungsministerium des Landes punktete mit der Regelung, dass jede Schule ihr vom Ministerium bewilligtes Budget frei zum Engagement externer Partner individuell nutzen könne. Freier Markt für freie Schulen – ein Weg mit Chancen, selbst verantwortete Vor-Ort-Lösung statt genereller Verordnungs-Kleister. Aber auch ein Weg mit Risiken, wenn Qualitätsmaßstäbe fehlen und Beliebigkeit Platz greift.

Letzten Endes wird es kein Patentrezept, keinen Königsweg geben, also auch keinen „Königsteiner Weg“. Für bedürfnisorientierte, qualitätvolle und funktionierende Partnerschaften muss die Politik im Bund, vor allem auch in den Ländern und in den Kommunen die strukturellen Voraussetzungen und Rahmenbedingungen schaffen. Hierbei sind auch die Verbände als Berater und Akteure gefordert und unentbehrlich.

Die Arbeitsgruppen

Der zweite Kongresstag sah emsige Arbeitsgruppen: gaben vormittags die „Anbieter“ den Ton an – also Musikschule, Privatmusiklehrer, Kirchenmusik, Orchester und Theater, Rundfunk, Tanz, Laienmusik, freie Träger und Künstler, Popmusik – so richtete man sich nachmittags an den verschiedenen Schultypen aus. Vorgeblich wurde hier jener Stoff erzeugt, aus dem das Abschlusskommuniqué bestand, das Hans Bäßler und Hermann Josef Kayser am letzten Tag präsentierten.

Was 300 Köpfe bewegte und bewegten – zweimal drei Stunden rauchend, am Vormittag gefiltert durch das Erinnerungsvermögen der Moderatoren und redaktionell verdichtet von Assistentin Brigitta Richter vor- und nachmittags von Berichterstattern dem Plenum mosaikisch zugetragen –, hatte über Nacht wohlgesetzte Form angenommen. Kompliment den Autoren. Die derzeitige Präsidentin der Kultusministerkonferenz, die rheinland-pfälzische Bildungsministerin Doris Ahnen, nahm das so legitimierte Papier freudig entgegen. Sie zeichnete ihr Bild einer Schule von morgen, die „Leben in die Schule“ holt und die „Schule ins Leben“ stellt. Dazu sei die Kooperation „mit dem Umfeld“ ebenso wichtig wie die individuelle Förderung. Und dazu brauche es „ein Konzept und kein Korsett“. Und im Übrigen seien es gerade auch die Eltern, die Ganztagsschule wollen, wie eine Befragung ergeben habe.
Natürlich wird das Positionspapier (abgedruckt in nmz 6/04), geduldig wie es ist, einige Kritik zu ertragen haben. Hier nur soviel: Dass der Musikrat es „begrüsst“, „das System Ganztagsschule einzuführen“ und dabei auch noch „die gebundene Form der Ganztagsschule“ empfiehlt, ist offenbar auch im Musikrat durchaus nicht Konsens, äußerte doch Bäßlers Präsidiumskollege Uli Kostenbader in einer am 24. Mai erschienenen dpa-Meldung: „Bedenken hegt der Musikrat vor allem gegen das Konzept der flächendeckenden Ganztagsschulen. Kindern und Jugendlichen werde dann die Zeit fehlen, zur Musikschule zu gehen“.
Und vielleicht hätte der Musikrat auf dem Kongress nicht nur den bisherigen Bundesfachausschuss „Musikpädagogik“ mit Dank an seine Mitglieder auflösen, sondern auch endlich den neuen Präsidialausschuss „Musikalische Bildung“ mit Bekanntgabe seiner Mitglieder einsetzen sollen. Vielleicht wäre es auch besser gewesen, dies schon vor dem Kongress zu tun und mit diesem frischen Gremium jene Kongress-Resolution zu erarbeiten.
Es ist zu hoffen, dass die Verfechter der Ganztagsschulmusik, die soeben der Länderzuständigkeit auf dem Gebiet der musikalischen Kinder- und Jugendbildung eine starke Lanze gebrochen haben, sich und anderen damit nicht – lange bevor sich auf diesem Gebiet auch nur ein Quentchen Utopie erfüllen wird – ein Bein gestellt haben. Zu denken ist an die weitgehend unter Ausschluss der Öffentlichkeit, aber mit starker Anteilnahme der KMK stattfindende Arbeit der sogenannten „Förderalismuskommission“, wo Tendenzen unübersehbar werden, im Zuge der „Entflechtungsdebatte“ zwischen Bund und Ländern die bundeszentrale Zuständigkeit für von bundesweiten Infrastrukturen der musikalischen Bildung abzuschaffen und damit auch deren Förderung. Neben einer Vielzahl seiner Mitgliedsverbände gehört dazu auch der Deutsche Musikrat.

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