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Wo sich der Jazz in Jass verwandelte

Untertitel
Die polnische Jazzszene der letzten dreißig Jahre ·<br /> Von Christine Wagner
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Was ist denn nun das Typische am polnischen Jazz? Immer wieder, wenn ich Polen danach frage, zucken sie mitleidsvoll die Schultern: „Das kann ich nicht sagen.“ Selbst polnische Fachmenschen haben keine befriedigende Antwort parat. Steckt dahinter Abwehr gegenüber dem ewig deutschen Bemühen, selbst Musik bis ins Detail analysieren zu müssen? Oder Bescheidenheit?

Jeder, der sich nur halbwegs in der polnischen Szene auskennt, weiß, dass unsere musikalischen Nachbarn neben den Skandinaviern die besten Jazzer Europas haben. Und das seit über 40 Jahren. Wer als DDR-Bürger das Gefühl von Freiheit und die beste internationale Kost genießen wollte, die ein Land des sozialistischen Bruderbundes zu bieten hatte, der fuhr zum jährlichen „Jazz Jamboree“ nach Warschau.

Doch dann fällt mir in einer Zeitschrift das Wörtchen „Jass“ auf. Druckfehler scheinen ausgeschlossen. Immer wieder steht da „Jass“. Von den jungen Wilden ist die Rede, die sich von den international erfolgreichen Alten abgrenzen. Mit einer Musik, die jegliche Fesseln des englisch-amerikanischen Jazz sprengt. Die lebenslustig, bunt, entspannt und chaotisch ist. Bei der man die Sinnfrage nicht zu streng stellen sollte. Und die stilistisch in keine Schublade passt. Als ich meine polnischen Freunde dann nach „Jass“ frage, erhellen sich blitzartig ihre Gesichter. Als hätte ich einen wertvoll gehüteten Schatz entdeckt, den die Ein- geweihten nur mit dem teilen, der ihn selbst findet. Von selbst hätten mir die Polen nicht von „Jass“ erzählt. Doch dann hören sie nicht wieder auf zu schwärmen. Selbst einer ernsthaften Frau wie der Stellvertreterin des Polnischen Kulturinstitutes in Berlin, Ivona Kozlowska, leuchten die Augen: „Sogar die Generation meiner Eltern lässt sich von dieser Musik begeistern. In ihr finden sie vertraute Klänge wie die der polnischen Folklore wieder. Die Leute hören diese Musik, weil sie sich darin wiederfinden.“ Die junge blonde Frau Ende dreißig betont: „Wir wollen unser Polen wiederfinden, das sich auch in der Musik widerspiegelt. Wir wollen zurück zu unseren Wurzeln.“ Dass die jungen Wilden dann doch nicht auf den Bühnen der international bekannten und vom Ausland wahrgenommenen polnischen Jazz-Festivals stehen, – außer bei ihrem eigenen, den Gdynia Summer Jazz Days in Sopot (Juli) – gehört wohl zu den polnischen Minderwertigkeitskomplexen. Und schnell schimmert durch die Worte der liebenswert offenen Frau Kozlowska leicht versteckt ein elitärer Kunstbegriff: „Jazz an sich kann nicht die Massen bewegen.“ Und da Jass etwas von der Masse Geliebtes ist, darf er nicht Teil der Kunstszene Jazz sein? Oder fehlt den Polen der Mut, sich selbstbewusst der Welt zu zeigen?

Jass, der seine Wurzeln schon in den 80er-Jahren hat, feiert in Polen Hochkonjunktur. Zehn Jahre nach der Wende. In jenen Nachwendejahren mussten die Polen wie alle Osteuropäer durch ein tiefes Tal, um zurück zu ihrer eigenen Identität zu finden. Sie übernahmen kritikfrei die fremde westliche Kultur, die vordergründig die des Marktes mit seinen durch Geld bestimmten Werten ist. Reich sind dabei die wenigsten Polen geworden. Auf dem Musikmarkt geben bekanntlich große internationale Konzerne den Ton an, können dank ihrer wirtschaftlichen Macht leicht den Musikgeschmack manipulieren. Ohne Rücksicht auf das besondere Nationale und seine gewachsenen Traditionen.

Nach Jahren der Enttäuschung also lassen sich die Polen nicht mehr unter Druck setzen und bemühen sich, zu einer entspannteren Lebensweise zurückzukehren. Jass mit seinem leichten und spontanen Wesen passt gut dazu. Wie ihre auf Gemeinschaft zielenden Musiker, die ihre Gefühle mit dem Publikum, das meist in der gleich schlechten wirtschaftlichen Situation ist, teilen wollen. Und wer nicht genügend Geld hat, der ist nicht so satt und bequem, nach eigenen inneren Werten zu graben. Um nicht ganz sein Selbstbewusstsein zu verlieren. Die Tradition des polnischen Jazz reicht zurück bis ins Jahr 1956. Da fand in Sopot das erste Jazzfestival statt. „Das war wie ein Aufstand in Polen“, erzählt der in Berlin lebende Hobbyfachmann der polnischen Jazz-Szene Mariusz Bednarski. Jazz galt wie in allen anderen sozialistischen Ländern als amerikanische Unkultur. „Voice of Amerika“ drang dennoch in die Ohren der Musikfans. Mutige, aber anfangs dilettantische Musiker spielten den amerikanischen Jazz nach – und legten den Grundstein für den hervorragenden Ruf des polnischen Jazz in der Welt.

Viele der Musiker, die damals ihre Zeichen setzten, spielen heute noch. Auch zu den wichtigsten polnischen Jazzfestivals wie „Poznan Jazz Fair“ (Mai), „Warsaw’s Summer Jazz Days“ (Juni) und dem „Jazz Jamboree“ in Warschau (im Herbst, in diesem Jahr vom 23. bis 29.10.). Der wohl fleißigste und in Deutschland derzeit bekannteste polnische Musiker ist Tomasz Stanko. Obwohl er seine letzten beiden Platten mit norwegischen Musikern einspielte, tritt er zu Hause mit jungen polnischen Musikern auf. Die hier bei Saturn, Media Markt und anderswo zu erhaltende CD „The Green Hill“ des 1942 geborenen Trompeters mit dem schwarzen Schlapphut kürte das polnische Fachmagazin „Jazz Forum“ zur Platte des Jahres 1999. Und Stanko zum Musiker des Jahres. Wie viele Jahre zuvor. Er ist wohl bei jung und alt deshalb so beliebt, weil er im Unterschied zu fast allen älteren Kollegen noch heute den Zeitgeist in seine Musik hineinnimmt. Einst war er Pionier der elektronischen Musik. Heute sind es Elemente der Folklore und des Rock, die seine Songs frisch und wild wie eh und je machen.

Noch jetzt feiert man in Polen den 1969 jung verstorbenen Krysztof Komeda als Kult. „Auch wegen seiner Persönlichkeit“, sagt Bednarski. Junge Bands nehmen sich der Songs des Pianisten, Komponisten, der auch Theater-, Ballett- und Filmmusiken unter anderem für den Regisseur Polanski schrieb, an. Keinesfalls nur, um Komeda zu kopieren. Andere Namen wären zu nennen. Der Posaunist, Saxophonist, Cellist, Flötist und Komponist Zbignew Namyslowski zum Beispiel. Er versuchte schon früher, mit Musikern der Goralen, dem kleinen Bergvolk in der Hohen Tatra, zusammen zu spielen. „Mir gefiel das nicht, weil ich hörte, die spielen nebeneinander statt miteinander“, meint Bednarski. Auch der Saxophonist Jan „Ptaszyn“ Wroblewski hat sich den guten Ruf durch sein Mitspiel in unzähligen Sessionbands und Auftritten bei 13 internationalen Festivals bewahrt. Der elfmalige Musiker des Jahres muss der meistgereiste Musiker Polens sein. Zumindest sein Name hat es in international anerkannte Jazzlexika geschafft.

Nicht zu vergessen ist Jaroslaw Smietana. Er spielte in den 70ern mit Klaus Lenz, war außer in zwei Jahren von 1983 bis 1994 in Polen Jazzgitarrist des Jahres. Der Saxophonist, Pianist, Organist und Komponist Wojciech Karolak wurde in den USA, der Schweiz und Australien populär. Die 1951 geborene Instrumentalistin und Sängerin Ewa Bem, erfolgreich bei Festivals in Indien, Schweden, Tschechien und in den USA, schmückte das „Jazz Forum“ fünf Jahre lang mit dem Titel Sängerin des Jahres.

Den Multiinstrumentalisten und Komponisten Wlodzimierz Nahorny kennt man in Belgien, Finnland, Holland, Frankreich, Spanien, Skandinavien und anders wo in Europa. Der 60-jährige Pianist Adam Makowicz gehört mit eingespielten Arrangements zu Stücken von Benny Goodman, Herbie Hancock, Sarah Vaughan bis Gershwin zu den fleißigsten CD- und LP- Bespielern. Die Aufzählung ist freilich unvollständig. Auffällt, dass die traditionelle polnische Szene über ein unzähliges Reservoir an erstklassigen Instrumentalisten verfügt. Die sich mit Spielwitz, Improvisationsfreude und Lust am Experimentieren immer wieder zu neuen Formationen zusammenfinden. Die meist um 1940 geborenen Musiker bilden so etwas wie eine große Familie, die mehr die fremde als die eigene Kultur pflegt und dank der Vorherrschaft der anglo-amerikanischen Musikkultur auch internationale Lorbeeren ernten konnte.

Rockmusiker ließen ihre Gefühle schon in den 70er-Jahren in polnisch gesungenen Songs explodieren. Dabei leuchtete durch die Musik oft die eigene Folklore. Allein der ewige Rebell Ceslaw Niemen produzierte in den USA. Sein Mammutwerk „General Bem“ oder Lieder wie „Blumen der Heimat“ zeugen davon, dass sich der aus der Ukraine Vertriebene mit Werten wie Heimat, Geborgenheit, Angenommensein, authentisch sein, der Liebe zu den eigenen Wurzeln, auseinander setzte. Nun also haben die Jasser den nationalen Musikstab übernommen. Ohne auf Knien liegende Verbeugung vor den Alten. Ja – sie greifen sie geradezu lustvoll an. Leszek Mozder improvisiert frech über Chopin. Das getraute sich keiner vor ihm. Die Gruppe Milosc wagt gar, die Ikone Komeda lächerlich zu machen. Dessen berühmteste Platte hieß „Astikmatik“ – Milosc nennt das eigene Werk „Asthmatic“. Und macht durch aufgerissene Münder und herausgestreckte Zungen den Landsleuten klar, dass sie endlich das eigene Maul aufreißen. Die Jasser sind keinesfalls nationalistisch. Die Trebunia Family aus der Hohen Tatra spielt zum Beispiel zusammen mit Jamaikanern, was zu einer witzigen Mischung von Reggae und polnischem Folk führt. Auch auf anderen Jass-Platten bedienen Musiker sich aus dem Folkrepertoire anderer Länder. Das Acoustic Jazz Sextett Alchemik eröffnet ihr letztes Album mit feurigen bulgarischen Rhythmen – und den nächsten Titel mit sauber gesungenem mehrstimmigen Chorgesang wie es in der Folklore der Beskiden, der Heimat der Band, üblich ist.

Auch Brocken skandinavischer Musik finden sich in ihren aus vielen Bausteinen zusammengesetzten Songs, die sowohl zum Zuhören als auch zum Mitschwingen animieren. Und natürlich auch Splitter aus dem Folk der Mazuren. „Das ist die Musik der neuen Generation ohne zeremoniellen Eintritt ins 21. Jahrhundert“, schreibt die auch instrumental vielfarbige Band auf ihrem Cover. Es klingt wie eine Botschaft, die das Publikum nicht nur in Polen hören soll. Und ist auch internationaler Jazz in neuer Form. Mit hintersinnigem Witz und Sinn. „Talkin’ About Life And Death“ heißt die programmatische CD von Milosc & Lester Bowie mit unzählig schrägen Tönen, die dem harmonisch gestimmten Hörer schon mal auf den Nerv schlagen können. „Sport und Religion“ hat NRD (zu deutsch DDR!) ihr schwarz-silbriges Album genannt, auf dem zwei Kampfhunde im Dress hängen. Und tatsächlich jaulen die Klarinetten wie Hunde etwas – Vergangenem? – hinterher. Die Musik von Graal erinnert stellenweise an Dorfbums. Auch Schlagerhaftes bricht bei einigen Bands durch. Jass bietet für jeden etwas.

Goran Bregowicz und Jan Garbarek haben dem Jass Tür und Tor für ein großes Publikum geöffnet. Und eine wachsende Musikszene. „Jeden Tag entstehen neue Gruppen“, freut sich Frau Koslowska. Herr Bednarski aber glaubt, „dass die Strömung bald vorbei ist“. Ursprünglich sollen es zwölf Bands aus der Umgebung von Gdansk und Bydgoszcz, dem Zentrum der wahren Szene mit ihrem wichtigsten Club Musz, gewesen sein, die den Jass kreierten. „Alle wollten sie ihre Erfahrungen in die Musik einfließen lassen. Aber da die so unterschiedlich waren, konnten die Bands sich nicht auf eine bestimmte Richtung einigen.“ Im globalen Zeitalter von „Multi-Kulti“ fast logisch.

Die junge Szene trennte sich auch organisatorisch von den gestandenen Alten und ihrem Polnischen Jazzverein. Was nicht ausschließt, dass junge Musiker ihr Geld mit traditionellem Jazz verdienen und aus Spaß nach Feierabend dem Jass frönen. Der Bassist Olo Walicki zum Beispiel, der in der Band von Namyslowski mitspielt. Sonst aber gehen sie eigene Wege. So mit neuen Zeitschriften wie „Jazz Magazin“ oder „Jazz a gogo“ – frecher gestaltet als das traditionelle „Jazz Forum“.

Da beleidigen die Jungen die Alten schon mal als korrupt und die Alten die Jungen als Dilettanten. Und weil eine Band wie Graal aus Kielce, deren Musiker heute um die 40 sind, früher keine Platte rausbringen durfte, gehört sie heute eben zu den jungen Wilden. Zu hören sind sie bei fast immer ausverkauftem Haus in unzähligen Jass-Clubs, die in Polen wie Pilze aus dem Boden schießen, aber aufgrund fehlender Finanzen wenig Chancen haben, sich auf Dauer zu etablieren. Vertrieben werden Jass-CDs in Polen von Distribution Nord. Gowi und Biodro heißen die wichtigsten Labels. Wann aber macht Jass sich in Deutschland breit?

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