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Zwei Modelle weisen den Weg

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SchoolTour und Musikzirkus &#183
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Schule kann so schön sein: in nur einer Woche Musiktitel schreiben, proben und aufzeichnen, ein Schulfestival organisieren und moderieren, Projekte erfinden und selber organisieren, Kreativität im Sinne des Wortes in die eigene Hand nehmen. Alles gemeinsam mit Profis, die viel Zeit und Geduld aufbringen und persönlich offenkundig viel Spaß in dieser plötzlich etwas anderen Schule haben. Zeit für einen Bericht aus den Klassenzimmern…

Aus der Ferne des Klassenraums im dritten Stock hört man anschwellende Trommeln. Über den Schulhof laufen maskierte und geschminkte Jugendliche, ein Nachwuchs-Harry-Potter hat seine Zauberstäbe in der Eile verloren, keine Zeit, es geht zur Probe, Ruhe bitte! Dabei fing es alles nicht einmal harmlos an. Erster Tag auf dem Dorf. Zabba Lindner, Urtrommler der deutschen Rockszene, hat bereits am Sonntag seine Drums & Percussion aufgebaut, mit riesigen Gongs, alten klassisch erprobten Pauken und dem konventionellen Schlagzeug mittendrin. Fast drei Stunden war man am Werk, Schweiß als kleiner Bruder der Präzision. Die Schüler der Grund- und Hauptschule Wacken in Schleswig-Holstein haben so etwas noch nie gesehen. Der Schulleiter auch nicht. „Seid ihr denn verrückt geworden?“ Hans-Wilhelm Nottelmann steht diesem wilden Projekt an seiner Schule eigentlich sehr aufgeschlossen gegenüber, aber der Unterschied zum Anblick von Blockflöte und Triangel, der heutigen Reststandardausrüstung deutscher Grund- und Hauptschulen für das lästig gewordene Fach Musik, will in seiner voluminösen Variante erst einmal verkraftet werden. Er gewöhnt sich schnell an die Dimensionen dieser Musikwoche wie auch die Schüler.

Die Poppartner kommen aber nicht als Besserwisser, sondern als Helfer in großer Not. Poptrainer Lindner auf die Frage einer Lehrerin der Schule nach seiner Arbeit vom ersten Tag: „Ich habe denen erst mal Respekt und Disziplin beigebracht.“ Lindner ergänzt im Rückblick gegenüber der nmz: „Musik ist Herzenssache, das bemerken die Jugendlichen natürlich sofort und verändern schnell ihr oft aufgesetztes und aggressives Verhalten, der Alltag an den Schulen kann von den Schwingungen und der Ausstrahlung der Musik nur profitieren.“ Das Wunder von Wacken geschieht. Am zweiten Tag herrscht in den Pausen eine ganz andere Atmosphäre, dort, wo gestern noch Tritte, Schreie, Tränen und sonstiger Aggressionsabbau das Bild bestimmte, sieht man sie jetzt in Gruppen freiwillig arbeiten. Köpfe werden zusammen gesteckt, Skizzen herumgereicht, die Teams arbeiten und haben Spaß, die Schule ist plötzlich ein ganz anderer Ort.

Mit Unterstützung der Deutschen Phono-Akademie wurde hier im Vorfeld ein eigenes Modell aus der Taufe gehoben, mit dem letztlich bundesweit ein Ausweg aus dem akuten Dilemma gewiesen werden könnte. Zuerst wurde im hohen Norden ein Beirat ins Leben gerufen, der alles integrierte, was im Umfeld auch nur entfernt mit Musik und Kreativität zu tun hat: der Veranstalter des Wacken Open Air Hardrock Festivals, der Musikzug der Freiwilligen Feuerwehr, ein ehemaliger Berufsclown vom Zirkus G. Althoff, der in der Nähe wohnende Liedermacher Hannes Wader, Journalisten und weitere engagierte Menschen bis hin zu einigen Eltern der Schüler. Hannes Wader gab ein Benefizkonzert zugunsten des Projektes, Kultursponsoren wie die Itzehoer Versicherungen (John Lennon Talent Award) halfen ebenso - und schon war der „Musikzirkus Wacken“ gegründet.

Es folgte daraufhin eine Projektwoche, bei der die gesamte Schule von der kreativen Aufbruchstimmung erfasst wurde, 23 Projektangebote wurden von Lehrern, Eltern und sogar von einer Schülerin angeboten, nach intensiver Probe ging es in die „Manege“ der Sporthalle und lokale Medien, Anwohner und Politiker der Region waren begeistert. Die CDU des Landtages Schleswig-Holstein attestierte dem Projekt höchste Förderungswürdigkeit, der Vorsitzende des Tourismusausschusses im Landtag des nördlichsten Bundeslandes, Hans-Jörn Arp (CDU-MdL), erkannte die Dynamik dieser Idee: „Dieses Projekt hat eindeutigen Modellcharakter und muß wegen seiner positiven Resonanz unbedingt weiterhin unterstützt werden. Darüber hinaus müssen wir als Politiker auch dazu beitragen, dass solche Projekte nicht nur an einem Ort stattfinden, sondern möglichst vielen weiteren Schulen zugänglich gemacht und zur Nachahmung empfohlen werden.“ Der Musikzug der Feuerwehr hatte wie auch der Musikalienhändler des Nachbarortes bis zum Antritt bekannter Künstler und Coaches wie T.M. Stevens (Bassist etwa bei James Brown, Tina Turner und Joe Cocker) und Udo Dahmen (Schlagzeuger, jetzt Leiter der Popakademie Mannheim) ein Problem: Musik war hier megaout. Ein Elternvertreter gab zu Protokoll: „Unsere Jungs kamen nach Hause und sagten, Musik sei doof und was für Mädchen, alles Kreative galt bei den Meinungsmachern auf dem Schulhof als unmännlich. Es reichten zwei Veranstaltungen mit den Künstlern an unserer Schule und schon war alles anders.“ Auch der Schulleiter, Hans-Wilhelm Nottelmann, ist von den Ergebnissen der Initiative überzeugt: „Der Grund- und Hauptschulbereich hat dieses Thema viel zu lange vernachlässigt, wir alle können dabei von verbessertem Musikunterricht nur profitieren. Wenn man die Begeisterung der Kinder sieht, dann möchte man nicht wieder zurück in eine Wirklichkeit, wo pro Woche gerade mal eine Musikstunde zur Verfügung steht, von einer Lehrerin, die auch noch anderweitig eingebunden ist, weshalb auch diese Stunde noch oft ausfällt.“

Nottelmann hat einen Wunsch. Wenn er in einigen Jahren pensioniert wird, dann soll es hier mindestens eine Schulband geben, die ihm zum Abschied ein kleines Konzert gibt. Das Ziel dürfte erreicht werden, denn unlängst kam der größte Rabauke der Schule samt Gitarre zu ihm ins Büro. „Ich war sprachlos. Der kam zu mir und ich dachte zuerst, na, was hat der wieder ausgefressen. Dann setzte er sich hin, griff zur Gitarre, spielte ein paar Akkorde und sang dazu – extra für mich ein kleines Ständchen, das war super.“ Inzwischen unterrichten drei Berufsmusiker an der Schule (vermittelt vom Popkurs der Hamburger Hochschule für Musik und Theater), sind 74 Schüler am Instrument, werden die Musikerzieher mit Unterstützung des Beirates (inklusive Benefiz-Veranstaltungen), Haussammlungen und Kostenbeteiligung der Eltern finanziert. Wachsende Unterstützung der Politik sorgt inzwischen dafür, dass dieses Modell in Schleswig-Holstein auch anderen Gemeinden und deren Bürgermeistern empfohlen wird und man über Nachahmung konstruktiv nachdenkt. Im Gefolge dieser Erfahrungen hat die Deutsche Phono-Akademie ihre Pioniertätigkeit weiter entwickelt. Die SchoolTour 2002/2003 startete noch im letzten November an der Borwinschule in Rostock. Deren Musikpädagoge Manfred Gruber erinnert sich: „Heiß und neugierig waren Schüler und Lehrer auf das verlockende Angebot. Keiner wusste, was genau auf alle Beteiligten zukommen würde. Lediglich wenige Grobziele wurden in Vorabsprachen gesteckt. So lagen die Schwerpunkte auf Öffnung des Musikunterrichts gegenüber der tatsächlichen Lebenswelt der Schüler und auf praktische Tätigkeit gepaart mit theoretischer Fundierung durch namhafte Fachleute, Journalisten und Musiker. Das alles unter der thematischen Sicht der politischen Auseinandersetzung hinsichtlich der Integration ausländischer und fremder Musikwelten und der Reflexion eigener Anschauungen. Große und ehrenwerte Ziele, die tatsächlich erreicht wurden.“

Als am Montag blasse und noch gar nicht zum Lernen aufgelegte Gesichter in die Schule schlurften, erwartete sie gleich im Flur die afrikanische Trommlergruppe Akanga, alle in Rostock lebend, Ausländerintegration nicht umständlich per Diskussion, sondern mit Musik und Künstlern. Die Temperaturen stiegen. Den Unterricht startete DJ Hildegard aus Hamburg, ebenfalls dunkelhäutig und als Frau in einer Männerdomäne arbeitend, ein interessanter Gesprächspartner für die Schüler. Nachdem DJ Hildegard alles über Turntables und Dancefloor erzählt hatte, gab es Zeit für persönliche Gespräche auf dem Schulhof.

Anschließend verteilten sich die Schüler in Arbeitsgruppen, trainierten mit VIVA-Moderator Markus Meske Moderation, mit der New Yorker HipHop-Legende Kurtis Blow das Rappen, übten „Techniken der Ideenfindung“ und planten sogleich ein „Fest für junge Kreative“, welches inzwischen bereits als Idee mit Sponsoren als Ziel weiter verfolgt wird. Pädagoge Gruber: „So wurden die Teilnehmer derart motiviert und professionell betreut, dass ein unglaublicher Arbeitsaufwand, der unter alltäglichen und normalen Bedingungen wohl gut und gerne ein halbes Jahr in Anspruch genommen hätte, in dieser nur einen Woche bewältigt wurde. Als absoluter Glücksfall erwiesen sich hierbei die beiden Musiker und Produzenten Markus Brachtendorf und Thorsten Neubert. Sie verstanden es mit Witz, Energie und professionellem Anspruch, die Schüler in ihren Bann zu ziehen und sie in eine Art kreativen Rausch zu versetzen. Unter ihrer Anleitung entstanden in kürzester Zeit anspruchsvolle, teils sehr persönliche Texte der Schüler, die dann in ein unterschiedliches, musikalisches Kleid gefasst wurden.“

Der Klassenraum wirkte wie ein Produzentenraum, aus Ideen wurden Songs, die aufzunehmen sich lohnte. Es entstand der „Borwinbeats“-Sampler, den alle am Freitag nach dem großen Event mit nach Hause nahmen. In den Texten wenig Formatradio oder sonstiger Flachpop, die deutschen Jugendlichen und Einwandererkinder halten offenbar wenig vom belanglosen Tralala; Konflikte mit Eltern, Gewalt von Neonazis und Absagen an den konformistischen Mode-Mainstream zeigten, wie sehr sich Musik als ganz persönliches Ventil anbietet und sofort genutzt wird.

Kollege Gruber zum Thema: „Sorgen, Ängste und Probleme zu verarbeiten, war offensichtlich ein grosses Bedürfnis.“ Dieses Bedürfnis ist in der normalen Schule nicht auf dem Lehrplan, jeder ist sich selbst der Nächste, mit Problemen muss man alleine fertig werden – Schule ohne Musik und an den Seelen der jungen Menschen kalt vorbei. Unterstützt von den Organisatoren Hajo Brockmann und Christine Pentzek – „mit pädagogischem Geschick und menschlicher Herzlichkeit“ (Gruber) –, entstanden die Anknüpfungspunkte über die Musikprojektwoche hinaus. Das Engagement der Schüler, die Ideen für weitere von Schülern organisierte Veranstaltungen, all das rief nach mehr. Als am Freitag als Höhepunkt dieser Arbeit zum ersten Mal die Ämter des Musikministers und seiner zwei Stellvertreter an Sandy Putnins, Paul Jentzsch und Inga Schwatke vergeben wurden, war hier der Start für das Schülernetzwerk der Deutschen Phono-Akademie gegeben. Für die gesamte Schule war das am Freitag stattfindende, abschließende „etwas andere Schulfest“ ein wirklicher Höhepunkt. Alle sechs Musikprojekte gingen auf die Bühne, traten vor den Mitschülern auf, selbst moderiert von Schülern – und es gab reichlich Beifall und bei kleinen Pannen nicht mal die erwartete Häme. Der wertvollste Lohn für die Schüler und Betreuer.

Für den Schulpädagogen kam dannn wieder der Alltag. Und der kann traurig machen. Gruber fordert dauerhafte Konzepte von den Verantwortlichen, die solche Beispiele nicht ignorieren dürften. Die Musikministerinnen und -minister sollten sich bei kommenden Wahlen laut zu Wort melden. Gruber: „Die SchoolTour wird weiterziehen, in verschiedenen Städten eine Woche lang den Musikunterricht öffnen und Schüler erreichen und begeistern. Sie wird vielen Verantwortlichen zeigen, wie es sein könnte, wenn Musik einen anderen, den eigentlich gemäßen Stellenwert an Schulen hätte. Die Verantwortlichen für Bildung müssen dieses Modell als erfolgreich auf der ganzen Linie erkennen. Sie müssen dabei sein und sie müssen handeln!“


SchoolTour
Hilfe zur Selbsthilfe für Schulen

Gemeinsam mit der Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) und der MAWA Film- und Medien GmbH entwickelte die Deutsche Phono-Akademie e.V. ein völlig neues Konzept zur Vermittlung von Popkultur für alle Schultypen, von der Haupt-, Real-, Gesamt- bis zur Berufsschule. 50 bis 60 Schüler in den oberen Altersgruppen nehmen am Wochenprojekt teil. Texten, Komponieren, Arrangieren und Interpretieren (bis zum Bühnenauftritt) steht auf dem Stundenplan, aber auch Pop und Politik, Migration und Rassismus, Urheberrecht und künstlerischer Alltag, Event-Management und Moderation. Die selbst komponierten und interpretierten Songs werden vor Ort gebrannt – mit einem Sampler der jeweiligen Songs geht es nach Hause. Sogar die „Kulturgeschichte der Popularmusik im 20. Jahrhundert“ wird vom neu hinzu gekommenen Partner aus Nordrhein-Westfalen, dem rock‘n‘popmuseum aus Gronau, präsentiert. Jede Schule wird von der Filmfirma MAWA mit einem DVD-Player für die Zukunft gerüstet, auch etliche DVDs von Grönemeyer, den Toten Hosen oder Filmdokus, wie etwa über die „Legends of HipHop“ (mit vielen authentischen Interviews über Entstehung und soziokulturelle Hintergründe in der New Yorker Bronx) verbleiben dem Musiklehrer für seinen Unterricht vor Ort. Neun Schulen in zunächst drei Bundesländern stehen auf dem Plan, nach Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen und Schleswig-Holstein soll NRW folgen, am Ende der Schulwoche berufen die Initiatoren pro Schule einen Musikminister oder eine Musikministerin mit jeweils zwei Stellvertretern. Anschlussprojekte und der Aufruf zur Gründung von Netzwerken rund um die jeweilige Lehranstalt sollen den Fortbestand des Begonnenen garantieren, am (noch fernen) Ende wird ein popkulturelles Netzwerk aller deutschen Schulen gewünscht.

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