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Zwischen Oper und Volkslied

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Neuerscheinung spürt sinfonischer Musik in Rußland nach
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Jörg Michael Abel:Die Entstehung der sinfonischen Musik in Rußland. Band 7 der Reihe „studia slavica musicologica. Texte und Abhandlungen zur osteuropäischen Musik“. Berlin, 1996. Verlag Ernst Kuhn, 384 S., zahlreiche Notenbeispiele, 98,- Mark. „Das Volk schafft die Musik, wir Musiker arrangieren sie nur“ - mit diesem Aphorismus kennzeichnete Michail Glinka seine Auffassung vom Komponieren, die ihm den Ruhmestitel eines „Stammvaters der russischen Musik“ einbrachte. Jahrhundertelang war unter dem Einfluß der Ostkirche die Herausbildung einer selbständigen Kunstmusik in Rußland unterdrückt worden. Nach einem Wandel religiöser und politischer Anschauungen kam es dann besonders unter Zar Peter dem Großen zu einer vollständigen Adaption westlicher Musik, allem voran der italienischen Oper. Erst im 19. Jahrhundert entwickelte sich, wie in anderen europäischen Ländern durch eine Besinnung auf das Volkslied begünstigt, eine russische Nationalmusik. Als deren Geburtsstunde werden heute allgemein Glinkas Opern „Ein Leben für den Zaren“ (1836) und „Ruslan i Ljudmila“ (1842) gefeiert. So etwa liest man es in Standardwerken der Musikgeschichte. Die Frage nach der Herausbildung einer typisch russischen Orchestermusik jedoch ist in der Literatur angesichts von Oper und Vokalmusik, in denen sich russisches Kolorit deutlicher abzeichnet, bisher weitgehend übergangen worden. Abel nutzte nun zur Erforschung dieses Gebietes die sich nach der Auflösung der Sowjetunion neu eröffnenden Möglichkeiten in der russischen Archivlandschaft. Seine Dissertation, die im vergangenen Jahr erschienen ist, spürt den Anfängen einer selbständigen Orchestermusik in Rußland nach. Aufbauend auf knapp skizzierten geistes- und kulturgeschichtlichen Grundlagen osteuropäischer Musik dokumentiert Abel die Entstehung und Entwicklung russischer Sinfonik anhand von überzeugend ausgewählten musikalischen Schlüsselwerken, deren musikhistorische Bedeutung durch Notenbeispiele und Analysen erarbeitet wird. Als zentrales Problem der Werkanalysen stellt sich für ihn dabei die Verschmelzung der westlichen Form der Sinfonie mit russischem Melodiegut dar. Eine Synthese beider Elemente findet sich erstmals in sinfonischen Versuchen Alexander Aljabjews und den Orchesterwerken Glinkas, die der Autor als Ausgangspunkt für seinen stringent gespannten Bogen wählt. Im Mittelpunkt der Darstellung steht das Werk der „Novatoren“, die -überwiegend Autodidakten- mit dem Ideal einer unverfälschten russischen Nationalmusik auftraten, um den von Glinka beschrittenen Weg zu vervollkommnen. Zu diesem „Mächtigen Häuflein“ zählen außer Rimski-Korsakow vor allem Mussorgski, Balakirew, Borodin sowie Cui. Abel verliert aber auch diesen gegenüber kritisch eingestellte Komponisten wie Anton Rubinstein, Alexander Serow, Wladimir Stassow und Alexander Dargomyschski nicht aus dem Blick. Als vorläufigen Höhepunkt der Bemühungen um die Idee einer nationalrussischen Sinfonie sieht er die sämtlich in den 1860er Jahren entstandenen ersten Sinfonien von Rimski-Korsakow, Balakirew, Borodin und Tschaikowsky sowie Borodins bekannte zweite Sinfonie, mit denen er sich eingehend beschäftigt. Ein abschließender Ausblick zeigt den folgenden Weg der einzelnen „Novatoren“ mit ihrer Wendung zur Sinfonischen Dichtung auf. Der Reiz dieser anschaulischen Arbeit liegt nicht nur in ihrer gelungenen Kombination aus frischer Darstellungsart, biographisch interessanten Fakten, illustrierenden Zitaten und formalen Werkanalysen; eine besondere Bedeutung kommt auch der Wiederentdeckung im Westen fast unbekannter Kompositionen zu, die ein neues Licht vor allem auf die russische Orchestermusik vor Glinka werfen.

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