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Das MHL-Ensemble für Alte Musik in der St. Jakobi Kirche Lübeck bei der Buxtehude Abendmusik mit Originalen und Rekonstruktionen (17. Oktober 2025). v.l.n.r.: Anna Melkonyan (Violine), Ilia Kulikov (Cembalo), Elisabeth Weber (Violine), Pauline Kringel (Sopran), Charlotte Schwenke (Gambe), Sophie Lücke (Violone). Foto: John Garve

Das MHL-Ensemble für Alte Musik in der St. Jakobi Kirche Lübeck bei der Buxtehude Abendmusik mit Originalen und Rekonstruktionen (17. Oktober 2025). v.l.n.r.: Anna Melkonyan (Violine), Ilia Kulikov (Cembalo), Elisabeth Weber (Violine), Pauline Kringel (Sopran), Charlotte Schwenke (Gambe), Sophie Lücke (Violone). Foto: John Garve

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Neugier als treibende Kraft

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Musiktheorie an der Musikhochschule Lübeck
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Ob bei der fundierten Partituranalyse zur Vorbereitung einer Interpretation, bei Stiluntersuchungen zu einer Epoche oder bei der Ausarbeitung von Notentexten: die Musiktheorie an der Musikhochschule Lübeck (MHL) wirkt nachhaltig in die Musizierpraxis hinein. Und wer dieses Fach studiert hat, kann auch im Musiklektorat, in der Opern- und Konzertdramaturgie oder in einer Rundfunkredaktion arbeiten, Berufsfelder, die solide historisch informierte Kenntnisse musikalischer Strukturen und der Machart von Musik voraussetzen.

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Rekonstruktionen und stilgebundenes Komponieren 

Um im Stil eines Komponisten wie beispielsweise Dieterich Buxtehude (1637-1707) zu komponieren, ist neben viel Wissen und einer ausgereiften Technik auch erhebliche Inspiration notwendig. Denn oft gibt es „Unschärfen, Leerstellen und blinde Flecken“, so das Motto der 25. Jahrestagung der Gesellschaft für Musiktheorie (GMTH), die im Oktober 2025 an der MHL stattfand. Leerstellen tun sich zum Beispiel auf, wenn historische Quellen fragmentarisch überliefert oder etwa Seiten eines Autografs beschädigt oder ganze Stimmen eines Stückes verloren gegangen sind. Das weckt aber auch Neugier: „Solche Lücken im Schaffen einer bewunderten Komponistin oder eines bewunderten Komponisten empfindet man wie offene Wunden. In diesem Zustand ist ein musikalisches Fragment zum Schweigen verurteilt. Doch hier können Theoretiker:innen Abhilfe schaffen. Ich betrachte Rekonstruktion als eine Kernkompetenz der Musiktheorie“, erklärt Prof. Dr. Oliver Korte, MHL-Vizepräsident und zusammen mit Prof. Sascha Lino Lemke sowie Dozent Luis Ramos Veranstalter und Projektleiter der Lübecker Tagung.

Die GMTH lobt mit Bezug zu ihren Tagungsthemen jährlich einen künstlerischen Wettbewerb aus. Oliver Korte hat angeregt, dass in diesem Jahr Fragmente des Lübecker Komponisten Dieterich Buxtehude rekonstruiert werden sollen. Eine Fachjury unter Vorsitz von Ton Koopman, Präsident der Buxtehude-Gesellschaft und Honorarprofessor an der MHL, wählte unter 22 internationalen Einsendungen drei herausragende Rekonstruktionen aus. Die drei Preise gingen an Valentin Richter (Kantate BuxWV 16), Frederik Kranemann (Præludium BuxWV 154) und Ugo Bindini (Kantate BuxWV 121). Die Werke wurden im Rahmen der GMTH-Tagung in der Jakobikirche uraufgeführt – als Hommage an Buxtehudes berühmte Abendmusiken in der Lübecker Marienkirche. Für Ton Koopman bedeutet Rekonstruktion, fähig zu sein, beispielsweise eine nur partiell erhaltene Triosonate im Stil von Buxtehude zu vervollständigen, und zwar so, dass sie nicht nur auf dem Papier komplett, sondern qualitativ auch zur Aufführung geeignet ist. „Man lernt sehr viel dabei, denn Rekonstruktion ist keine akademische Übung. Sie erfordert ein erhebliches historisches Musikwissen und kreative Arbeit. Und so entwickelt sich, wie bei mir damals, als ich Vokalstimmen für ‚Das Jüngste Gericht‘ ergänzt habe, ein großes Interesse und Verständnis für einen Barock-Komponisten wie Dieterich Buxtehude. Und diese Arbeit hat tiefen Sinn, denn als leidenschaftlicher Sammler kann ich nur sagen: eine lückenlose Gesamtausgabe ist sehr zufriedenstellend.“

Die Arbeit der stilgebundenen Komposition und Rekonstruktion ist auch ein Erkenntniswerkzeug, wie Prof. Sascha Lino Lemke aus eigener Erfahrung berichtet: „Wenn man Musik analysiert, glaubt man, viel über Komponisten und Stile zu wissen. Doch dann, wenn man selbst vorm Notenblatt sitzt, um ein Stück in einem historischen Stil zu komponieren, oder auch ein Fragment stilistisch angemessen zu ergänzen, steht man mit einem Mal vor Detailproblemen und Herausforderungen, die die Analyse nicht einmal registriert. Obwohl es bei der Lösung dieser Probleme etliche gescheiterte Versuche geben kann, ist die Arbeit der Rekonstruktion lohnend und auch sehr sinnlich. Man kann dabei durchaus seinen Hedonismus ausleben.“

Original und Fälschung 

Ein spezielles Konzertformat mit stilgebundener Komposition hat die Musiktheorie-Fachgruppe der MHL für das Projekt ‚Original und Fälschung‘ erdacht, das Aspekte der Musiktheorie publikumswirksam transportiert. „Die Vorgehensweise ist der Rekonstruktion vergleichbar“, erläutert Chris Wagner, Bachelor-Student der Musiktheorie. „Man studiert das Œuvre einer Komponistin oder eines Komponisten oder auch eine ausgewählte musikalische Gattung und macht sich zur Aufgabe, in dieser Stilistik neue Kompositionen zu verfassen.“ So komponierten Studierende der Musiktheorie für das erste Projekt ‚Original oder Fälschung‘ Werke im Stil von Antonio Vivaldi, die beim MHL-Konzert mit den Originalen des alten Meisters konfrontiert wurden. Nun war der Spürsinn des Publikums gefragt: Man durfte per Handy-App tippen, welcher der aufgeführten Sätze tatsächlich von Vivaldi stammte, und welcher ,gefälscht‘ war. Das Ergebnis war überraschend: Die meisten Teilnehmenden beurteilten ausgerechnet die Stilkopien als Originale, während zwei originale Sätze von Vivaldi komplett durchfielen. Das zweite Projekt ,Original und Fälschung‘, in dem es um klassische Streichquartette ging, hat Chris Wagner empirisch untersucht. Er stellt fest: „Die Hörwahrnehmung ist sehr stark von der eigenen Musiksozialisation abhängig. In diesem Falle wurden komplexere Werke eher als Fälschung angesehen, weil die Klassik heute als Epoche des Ebenmaßes und der Schlichtheit gilt.“ Damit lag das Publikum nicht immer richtig.

Regeln und Intuition 

Das Projekt ‚Original und Fälschung‘ − einerseits mit seiner sinnlichen „Gamification“, andererseits aus Forschungsinteresse interessant − weist auch auf eine prinzipielle Aufgabe der Musiktheorie hin: die Spannweite und Beziehung zwischen Regeln und Intuition abzustecken. Oliver Korte pointiert diese Thematik: „Was ist es, das wir beispielsweise an Vivaldi nicht verstanden haben, so dass wir zwar das Publikum mit unseren Fälschungen täuschen konnten, während aber Vivaldi selbst durchfiel? Waren unsere Kompositionen zu glatt? Waren sie eine Art modern konfektionierter ,Über-Vivaldi‘, den man sich vielleicht heute allgemein so vorstellt, den es aber in Wirklichkeit nie gab?“

Aus dieser Frage ergibt sich ein Forschungsauftrag der Musiktheorie, die zwischen kreativer Leistung (Praxis) und Fragen zum Verständnis eines historischen Stils (Analyse) pendelt. Regelbasierte Analysen und strikter ,reiner Satz‘ wurden dabei im 20. Jahrhundert allmählich auch durch die inspirierte Praxis in offeneren Systemen ergänzt, bei der sich stilgebundenes Komponieren aus einem variableren und historisch informierteren Werkzeugkasten bedienen kann. In diesem Sinne fand in den letzten Dekaden ein „scientific turn“ statt, sodass Unschärfen, Leerstellen und blinde Flecken nicht mehr allein als Dilemmata wahrgenommen werden. „Unschärfen wird es immer geben“, ergänzt Sascha Lino Lemke: „Glücklicherweise werden wir Musiktheoretiker noch genug aufzudecken haben. Rekonstruktion ist dabei nur ein Aspekt“.

Grenzen und Horizonte 

Musiktheorie partizipiert gleichermaßen an Wissenschaft und Kunst. Seit ungefähr den 1990er Jahren vollzieht sich im Fach eine Wandlung von einer Disziplin des akademisch-pädagogischen Tonsatzes hin zu einer vollausgebildeten historischen Wissenschaft, auch mit ausgeprägter Methodenkritik. Diese Wandlung darf man als erfolgreich betrachten. Aktuell besinnen sich viele auch wieder vermehrt auf die künstlerische Seite der Musiktheorie, und zwar keineswegs alternativ zu den wissenschaftlichen Errungenschaften des Faches, sondern davon ausgehend. „Es bleibt spannend“, resümiert Oliver Korte den aktuellen Stand seines Faches, „man bewegt sich gleichsam an den Grenzen des Fruchtlandes der eigenen Disziplin, erforscht blinde Flecken und erweitert nach Kräften den Horizont“.

Er hat im Jahr 2000 die Gesellschaft für Musiktheorie (GMTH), den Fach- und Interessenverband der deutschsprachigen Musiktheorie, mitbegründet. Zusammen mit seiner Fachgruppe hat er den erfolgreich durchgeführten 25. Jubiläumskongress an der MHL ausgerichtet: „Wir sind mächtig froh, dass alles so gut gelaufen ist, und dass das Motto ,Unschärfen, Leerstellen und blinde Flecken‘ offenbar inspirierend empfunden wurde.“ Die Konferenz hat wichtige Impulse gesetzt. Sie hat sowohl Diskurse zur Orientierung der modernen Musiktheorie anregen können als auch neugierig auf das Fach gemacht und dessen öffentliche Aufmerksamkeit gefördert. „

Tagungsprogramm und weitere Infos unter: www.mh-luebeck.de

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Die Lehrenden
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Ton Koopman

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Barock-Experte 

Ton Koopman wurde 1944 in Zwolle geboren. Er gilt weltweit als unbestrittene Autorität auf dem Gebiet der historischen Aufführungspraxis im Allgemeinen und des Werks von Johann Sebastian Bach und Dieterich Buxtehude im Besonderen, und das seit über sechzig Jahren. Er ist der bedeutendste noch lebende Pionier der historischen Aufführungspraxis, die in den 1960er- und 1970er-Jahren noch ein Nischenbereich der klassischen Musik war. Ton Koopman trug zu einer Umkehrung dieser Situation bei, als er 1979 das Amsterdam Baroque Orchestra gründete. Mit diesem Orchester und dem 1992 gegründeten Amsterdam Baroque Choir veränderte er die Art und Weise, in der Alte Musik aufgeführt wurde. Ton Koopman war an allen bedeutenden Konzerthäusern und Festivals der Welt zu Gast. Über 400 Einspielungen dokumentieren seine umfangreiche Tätigkeit. Sein wohl umfassendstes Projekt war die Gesamtaufnahme aller Kantaten von J. S. Bach, ausgezeichnet mit dem Echo Klassik, dem Prix Hector Berlioz und dem BBC Award. Ton Koopman ist Präsident der Internationalen Dieterich Buxtehude Gesellschaft und seit 2012 Buxtehude-Preisträger der Hansestadt Lübeck; 2006 wurde ihm die Bach-Medaille der Stadt Leipzig verliehen. 2017 erhielt er den Edison Classical Award. Ton Koopman ist emeritierter Professor der Universität Leiden, Ehrenmitglied der Royal Academy of Music in London, künstlerischer Leiter des Festivals Itinéraire Baroque und seit 2019 Präsident des Bach-Archivs Leipzig. 

www.tonkoopman.nl

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Oliver Korte

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Musiktheoretiker und Komponist 

Oliver Korte, geboren 1969 in Hamburg, ist seit 2006 Professor für Musiktheorie an der Musikhochschule Lübeck; seit 2020 ebendort Vizepräsident. Die Musik von Oliver Korte ist ausgesprochen physisch: Er kreiert musikalische Objekte, Texturen und Prozesse, die sich unterscheiden nach Volumen, Dichte, Oberfläche, Temperatur, Geschmack und Geruch. Kortes Arbeit kreist insbesondere um zwei Gravitationszentren: einerseits die Entwicklung individueller Raumkonzepte (so in seiner abendfüllenden Oper Copernicus, uraufgeführt 2015 in Dresden) und andererseits die Auslotung besonderer Text-Musik-Relationen (etwa als Verschlüsselungstechnik in Epigramm – Kryptogramm – Piktogramm für einen sprechenden Trommler). Im gedanklichen Zentrum seiner Kompositionen steht oft die Auseinandersetzung mit der (physischen) Welt und den Optionen und Grenzen des Menschen darin (z.B. im Schlagzeugkonzert Die Elemente oder in Ludwig W. für Vibraphon und Klarinette aus dem Jahr 2020, einem Kommentar zu Wittgensteins Tractatus). Seine Forschungsschwerpunkte sind moderne und zeitgenössische Musik, Kompositionstechniken um 1500 (insbesondere die Rekonstruktion fragmentarischer Werke) sowie die Musik von Ludwig van Beethoven und Gustav Mahler. Oliver Korte ist Mitgründer der Gesellschaft für Musiktheorie (GMTH) und Herausgeber der Schriften der Musikhochschule Lübeck. Seit 2023 ist er Mitglied der European Academy of Sciences and Arts (EASA).

www.korte-oliver.de

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