Kaum scheint die erste Frühjahressonne auf den sich an altem Gemäuer emporrankenden Efeu, dann sprießen in jedem Schlosshof die Gourmet- und Weinfestivals, garniert mit Mozart, Kammermusik und dieses Jahr mit viel Liszt. Die Neue Musik mit großem N blieb derartigen kulinarischen Versuchungen gegenüber bislang standhaft, zumindest was die badisch-bürgerliche Küche in Donaueschingen anging. Jetzt gilt es von einem ersten Sündenfall zu berichten: das Arditti Quartet entpuppt sich nicht nur als Meister aller aktuellen Streichquartettmusik, sondern auch als ein Quartett von Genussmenschen.
Quartett wäre zu wenig, denn auch Ehemalige wie Rohan de Saram, Violoncello, Graeme Jennings, Violine, und Garth Knox, Viola, laden vom 1. bis 3. Juli ein ins Herrenhaus in Edenkoben zu einem Wochenende in der pfälzischen Toscana mit Musik in variablen Besetzungen, Diskussionen, edlen Weinen und Kompositionen der Sterneköche Christian Knefler und Wolfgang Reuter. Genussfähigkeit stand Pate für das Festivalformat auf altgriechische Art: Epikureer wie Wolfgang Rihm, Brian Ferneyhough, Robert HP Platz und Vykintas Baltakas erweisen ihre Reverenz mit Kompositionen und der Teilnahme an Gesprächen (mehr dazu auf Seite 38). Es gilt Entdeckungen zu machen: Auch Helmut Lachenmann entpuppt sich als Epikureer! Dabei ist sein Lieblingsgericht erwiesenermaßen „Gaisburger Marsch“, ein Stuttgarter Arme-Leute-Rezept, das aus einer Kombination aus Teigwaren (Spätzle) und Kartoffeln (in Fleischbrühe!) besteht und normalerweise jeden Besucher von Sterne-Restaurants in die Flucht schlägt (Quelle: Komponisten kochen, Hrsg. Klangspuren Schwaz).
Das Arditti-Wochenende in Edenkoben wirft Fragen auf, hat aber auch Folgen und ein Fazit: Wehrt sich die Neue Musik endlich gegen die Etikettierung „unsinnlich“ und „genussfeindlich“? Handelt es sich bei der Veranstaltung im Edenkobener Herrenhaus um ein neues Vermittlungsformat, gefördert von der Bundeskulturstiftung und dem Guide Michelin? Ist das Ganze einfach eine Alterserscheinung der Neuen Musik? Und welche Konsequenzen hat es für die Krise der Musikkritik? Die nmz-Redaktion handelte schnell: Für die nächste Ausgabe wird die geplante Menüfolge recherchiert, ein zweiseitiges Vorabinterview mit den Sterneköchen Knefler und Reuter und dem noch unbekannten Sommelier ermöglicht dem Leser eine ideale Vorbereitung auf das Arditti-Symposium in der pfälzischen Toskana. Edenkoben wird nicht nur mit einem Musikkritiker, sondern auch mit einem Restaurantkritiker besetzt. Weiter wird die nmz in Zukunft im handlichen Taschenbuchformat, passend in jedes Handschuhfach, erscheinen. Den roten Umschlag ziert das Logo „nmz-Guide – ausgesuchte Festivals und Konzertreihen für Kenner“. Die 50 wichtigsten Neue-Musik-Events werden kategorisiert mit 1 bis 3 Gabeln für die kulinarische Seite, mit 1 bis 3 Ohren für die musikalische Güte sowie mit 1 bis 3 Sesseln für ausreichend Beinfreiheit im Gehölz.
Friedrich Guldas Table-Dance-Girls, die Salzburger Netrebko-Show oder David Garretts Drei-Tages-Milchbart – das sind Formate von gestern. Für das Arditti Quartet und seine Komponisten gilt nicht „sex sells“, sondern Neue Musik geht durch den Magen. Bon App!
PS.: Wir bitten um Reservation eines schönen Tisches für zwei Personen am Fenster.