Die Festspiele in Aix-en-Provence wurden in diesem Jahr mal nicht von Streiks heimgesucht, hatten aber den plötzlichen Tod ihres Intendanten Pierre Audi zu verkraften. Der im Libanon geborene, multinationale Theatermann hatte 2019 von Bernard Foccroulle die künstlerische Leiter des Internationalen Festivals für Lyrik in Aix-en-Provence, übernommen, eigene Akzente gesetzt, das Festival vor allem geschickt durch die Coronaunbilden manövriert und war völlig unerwartet am 3. Mai dieses Jahres verstorben. Wie schon bei den Händelfestspielen in Halle an der Saale nach dem plötzlichen Tod des Intendanten Bernd Feuchtner, ist auch der aktuelle Jahrgang der Festspiele in Südfrankreich gleichsam ein selbst geplanter Epilog.

Don Giovanni beim Festival d’Aix-en-Provence. Foto: © Monika Rittershaus
Auftakt mit Ausrutschern – In Aix-en-Provence wird das Festival mit Mozarts Don Giovanni eröffnet
Mit einer durchaus ambitionierten Programmierung des Opernspielplans. Beim Auftakt-Don Giovanni hat er ein Regiedebüt riskiert. Mit der „Billy Budd“ Version eines jungen Ensembles nach Benjamin Britten im Théâtre du Jeu de Paume, beherzt auf eine Novität gesetzt. Mit der Wiederbelebung von Gustave Charpentiers „Louise“ im Théâtre de l’Archevêché sollte wohl vor allem die Erwartungen eines französischen Publikums befriedigt werden, wie die Novität in Arles dezidiert auf die internationale Vernetzung der Festspiele mit der außereuropäischen Welt und mit Cavallis längst wiederentdeckter Oper La Callisto auf eine nahezu sichere Barockbank setzt.
Beim Auftakt spielte man jedenfalls voll auf Risiko. Das ist lobenswert. Reicht aber nicht für ein uneingeschränktes Lob des Resultates.

Don Giovanni beim Festival d’Aix-en-Provence. Foto: © Monika Rittershaus
Auf der funktionalen zweietagigen Bühne im Brutalobetonanmutung, mit einem kellerartigen Untergeschoss (fürs Rumoren ungezügelter Obsessionen?) und einer Belletage mit Nobelschlafzimmer und Raum fürs Fest, die beide mit einer fahrbaren, halsbrecherischen Freitreppe zur Rampe hin verbunden sind, ist zunächst ein alter Mann zu sehen, der am Plattenspieler sitzt und dabei einen Herzanfall hat. Die Video -Traumbilder von Tal Yarden assoziieren ihn dann, wie in Charons Kahn auf dem Weg ins Jenseits, während immer wieder Bilder der Erinnerung auf ihn einstürmen. Was man hier ahnt, stellt sich am Ende in der technisch gut gemachten Schlusspointe tatsächlich heraus: der Alte erweist sich als ein Don Giovanni, der im Krankenhaus stirbt und dessen Leiche mit einem Tuch bedeckt wird. Und nur Donna Elvira geht die paar Stufen noch einmal hoch, um von dem Toten Abschied zu nehmen. Diese These klingt nicht nur (szenisch und für die Geschichte) unlogisch, sie bleibt es auch in der Durchführung. Dass der Komtur immer wieder auftaucht und auf das Geschehen reagiert, und nicht als Statue endet, ist das eine.
Der Hauptzweck ist die Geschichte, die Donna Anna damit erzählen kann. Wenn sie nämlich Don Ottavio von ihrer nächtlichen Begegnung mit Don Giovanni berichtete, taucht das erste Mal ein kleines Mädchen als ihre kindliches Alter Ego auf, das offensichtlich vom Vater missbraucht worden ist. Sie reagiert auch ziemlich abweisend auf Don Ottavios Ankündigung, den Mord am Vater zu rächen. Ganz nach dem Motto: Du verstehst überhaupt nichts. Einerseits bekommt die abenteuerliche Version, die Donna Anna ihrem Bräutigam auftischt, tatsächlich mal die Tiefe einer Traumasublimierung. Andererseits aber gerät das Ganze aus den Fugen. Wenn Don Giovanni am Fenster die Zofe Elviras ansingt, dann wird auch dieses kleine Mädchen der Adressat seines Gesangs. Aber wirklich pädophile Neigungen dichtet die Regie ihm dann doch nicht an. Er bleibt hier einerseits pure Projektionsfläche, anderereits ein Flaneur, der im Designer-Jogginganzug durch sein Leben schlendert. Eins, das ihm immer mehr zusetzt, so dass er am Ende blutüberströmt und mit einem Infusionsständer durch die Szene wankt und sich mit dem Komtur, also mit sich selbst, eine Schlägerei auf Leben und Tod liefert.

Don Giovanni beim Festival d’Aix-en-Provence. Foto: © Monika Rittershaus
Immer, wenn sich das Thesentheater von Robert Icke mit der erforderlichen Erzählung zu sehr verhakt, landet die Szene im Unterholz verstiegener Albernheit. Unterbrechungen der Szenen durch diverse Zwischengeräusche (aus der Hölle oder woher auch immer) behaupten Einzelnummern, machen deren Zusammenhang aber nicht plausibler. Als dann bei Leporello Registerarie eine Frauenriege wie bei einem Schönheitswettbewerb auf dem bühnenbreiten beleuchteten Laufsteg aufmarschiert, den offenbar keiner auf Rutschfestigkeit getestet hat und gleich zwei Modells ausrutschen, hat wohl der Geist DaPontes und Mozarts mit einem kleinen Fingerzeig rebelliert. Als Masetto dann einmal zu derb auftritt, fallen auch noch zwei Verkleidungselemente ab. Da war die tote Technik wohl werksensibler, als die lebenden Werkverbesserer.
Dass auch der zweite ernsthafte Anschlag auf den „Don Giovanni“ als Ganzem letztlich scheitert, ist der Musik zu verdanken. Simon Rattle und das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks sind mit Präzision und auch originell eigenwilligen Tempi bei der Sache, fangen fulminant an, treiben das Lyrische (bei der Canzonetta etwa) auf die Spitze. Sie sind zuverlässige Verbündete der Protagonisten, die zum Teil etwas anderes (deutlich näher an der Vorlage bleibendes) singen, als die spielen.
Andrè Schuen ist ein Don Giovanni von stimmlichem Edelformat, der trotz Jogging-Verkleidung das Kraftzentrum bleibt. An seiner Seite verkörpert Krzysztof Baczyk einen Leporello mit einem Habitus zwischen Butler und diabolischem Spielmeister überzeugend. Pawel Horodyski ist ein kraftvoller Masetto, dem man getrost eine Mozartzukunft voraussagen kann. Amitai Pati ist noch dabei, den rechten Ottavio-Schmelz zu finden. Der Komtur von Clive Bayley füllt seine doppelte Identität auch stimmlich passgenau aus. Bei den Frauen gewinnt Magdalena Kozena zunehmend die vokale Verve einer gereiften verlassenen Geliebten. Golda Schulz ist als traumatisierte Donna Anna hochpräsent, Madison Nonoa fällt mit ihrer bezaubernden Zartheit als Zerlina etwas aus dem Rahmen dieses Powerteams.
Am Ende gab es viel Beifall für die Interpreten und für hiesige Verhältnisse ungewöhnliche deutliche und lautstarke Buhs für ein an seiner Ambitioniertheit gescheitertes Regiedebüt.
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