In diesem Jahr wird in jedem Programmheft eine Widmung der 77. Ausgabe des Festivals in Aix-en-Provence für Pierre Audi vorangestellt. Als der Festspielintendant am 3. Mai in Peking starb, war der aktuelle Jahrgang natürlich längst in Sack und Tüten und eine solche Art des Gedenkens selbstverständlich. Er hat viele Modernisierungen weitergeführt, die seine Vorgänger begonnen haben, die Akademie für den künstlerischen Nachwuchs, die internationalen Kooperationen, das besondere Augenmerk auf die Mittelmeeranrainer, Uraufführung, eine breitgefächerte Programmatik.

Bild eines Seemanns: Die Wogen gelten dabei auch als Analogie für Benjamin Brittens Leben als Homosexueller in einer heterosexuellen Welt. Foto: Jean-Louis Fernandez
Es lebe die Vielfalt: Premierenreigen beim Festival Aix-en-Provence
Die Kooperation mit der Grande Halle du Parc des Ateliers in Arles im Schatten des Luma towers schien dem selbst im Libanon geborenen immer ein besonderes Anliegen zu sein.
Nach „Die arabische Apokalypse“ 2021 und „Das große Ja, das große Nein“ 2024 richtet sich dort der Blick diesmal nach Südindien. „The Nine Jeweled Deer“ („Der neun juwelenbesetzte Hirsch“) heisst die Kunstanstrengung der besonderen Art diesmal. Da Peter Sellars für das szenische Arrangement steht, verwundert die Entfernung des Abends von einem Musiktheater im herkömmlichen Sinne nicht wirklich. Es ist − wie bei ihm in den letzten Jahren immer deutlicher − mehr eine ritualisierte Meditation für die Künstler auf den Matten vor der einen Projektionswand für Bilder der in Äthiopien geborenen amerikanischen Künstlerin Julie Mehretu. Und für das Publikum, das zum Auftakt zu einem pseudosakral wirkenden Gesang eines Refrains eingeladen wird. Gesang an dem etwas arg vollmundig als Kammeroper betitelten Abend liefern Ganavya Doraiswamy und die südindische Sängerin und Komponistin Aruna Sairam. Fünf Instrumentalisten steuern Streicher-, Klarinetten- Saxophon, Schlagzeugklänge und Elektronik bei. Es sind parabelhafte musikalische Erzählungen aus einer fernen Welt, die machmal an minimal musik erinnern, dann wieder an Free Jazz, manchmal einen Sog entfalten, viel Willen zum Guten für die Welt verkünden und guten Willen beim Publikum voraussetzen.
Dass es nicht auf die große Form ankommt, um zu überzeugen, Spannung und Betroffenheit zu verbreiten und schließlich Jubel auszulösen, das bewies eine (echte) Kammeropernnovität im Théâtre du Je de Paume. Unter dem Titel „The Story of Billy Budd, Sailor“ gab es genau das, was der Titel verspricht. Die packende Geschichte des Seemanns Billy Budd über den Benjamin Britten eine seiner beiden großen Opern komponiert hat, bei denen unter den Orchester- und Chor-Meereswogen nicht allzu sehr versteckte seelische Unterströmungen wirken, die mit der eigenen Situation des großen Komponisten als Homosexueller inmitten eines homophoben Mainstreams zu tun haben.
Diesen Aspekt spielen auch Oliver Leith mit seiner musikalischen Adaption, vor allem aber Regisseur Ted Huffmann mit einer intensiven Personenführung und dem szenischen Arrangement aus. Die Seeleute bewegen sich hier auf und vor Laufstegen aus Holztischen − da reichen ein paar Uniformversatzstücke für Umzug auf offener Bühne und fertig ist die Seefahreratmosphäre. Zur Sache geht es vor allem über den kraftvoll klaren Gesang. Ian Rucker in der Titelpartie, Christopher Sokolowski als Kapitän Vere und Joshua Bloom in der Doppelrolle als Oberfiesling John Claggart und gutmütiger Seebär Dansker führen die sechsköpfige junge Sängermannschaft überzeugend an. Auch die (nur) vier ins Bühnengeschehen integrierten Musiker übernehmen immer wieder kleinere Gesangspartien, wenn sie nicht mit Klavier, Percussion oder Keybords beschäftigt sind. Der musikalische Abstecher ins nicht ganz so tiefe kammermusikalische Gewässer funktioniert ohne irgendwo aufzulaufen, weil sie dem Lotsen Britten folgen und ihn nicht überholen wollen. Das Resultat überzeugt restlos. Auch das Publikum.

Die Kammer-Adaption von Brittens großer Oper überzeugt mit reduziertem Bühnenbild und kleiner szenisch eingesetzter Instrumentalbesetzung. Foto: Jean-Louis Fernandez

In Juliens (erträumter) Klinik ist reichlich was los. Foto: Monika Rittershaus
Bei den beiden Premieren, die in diesem Jahr hier stattfanden, gaukelte das Bühnenbild, das Etienne Pluss für Christof Loys Inszenierung von Gustave Charpentiers 125 Jahre alter Oper „Louise“ aber nur einen Blick über die Dächer von Paris vor. Durch die hohen Fenster eines Wartesaals. Konkret ist das einer in einer psychiatrischen Klinik. Im übertragenen Sinne einer aufs Leben. In der Pariser Montmarte-Bohème versteht sich. Unter dem macht es diese Paris verklärende Oper mit ihrem Versuch, eine französische Antwort auf Puccini zu geben, nicht. Die Mutter ist natürlich dagegen, weil sie Julien für einen Filou hält, der Vater will von seiner Tochter partout nicht lassen. Sie flieht trotzdem − bei Loy landet sie als Patientin in der Klinik, in der Julien der Arzt ist. Das Leben ein Traum? Soviel Verfremdung der an sich banalen, in aller Ausführlichkeit erzählten Geschichte musste dann doch sein. Immerhin von Giacomo Sagripanti und dem Orchester der Oper Lyon musikalisch in französischer Diktion gerahmt und mit einem großen Liebesduett in der Mitte, das mit einigen Längen versöhnt. Elsa Dreisig ist die sehnsuchtsvolle Louise, Adam Smith ihr Liebhaber Julien, fesch aber mit Startschwierigkeiten. Als Mutter überzeugt Sophie Koch, als Vater Nicolas Courial. Das Riesenensemble zu führen und dann zusammenzuhalten imponiert. Zumindest das französische Publikum war verzückt.
In der zweiten, den aktuellen Premierenreigen abschließenden Premiere unter freiem Himmel richtete Julia Katharina Berndt die Bühne für Jetske Mijnssens Inszenierung von Francesco Cavallis (1602-1676) Oper „La Calisto“ so ein, dass man für Momente einen Blick auf die Fassade erhaschen konnte. Was ganz und gar selbstverständlich wirkte, denn alles spielt im Inneren eines eleganten, großzügigen Palastes. Im Zentrum ist ein ebenfalls holzvertäfelter Rundbau auf der Drehbühne platziert, was reibungslose und schnelle Wechsel zwischen diversen Innenräumen und Szenen erlaubt. Das 1651 uraufgeführte Meisterwerk der venezianischen Barockoper in der Nachfolge Monteverdis gehört (seit Herbert Wernicke und Rene Jacobs ihre legendäre Inszenierung an der La Monnaie Oper in Brüssel herausbrachten) zu den etablierten Wiederentdeckungen und entfaltet bei Sébastien Daucé und seinem Ensemble Correspondence seinen eigenständigen musikalischen Glanz. Selbst wenn man sich hier und da mehr prägnante Zuspitzung vorstellen könnten, verströmt die Musik ihren melodiensatten, beredten Charme.
Kein Gott − ein König
Aber auch der Plot ist verblüffend gegenwartskompatibel. Selbst wenn hier niemand Kniebundhose oder Reifrock gegen Gegenwartskleidung tauschen muss. Die Inszenierung ist in ihrer Ancien-regime-Leichtigkeit von „Gefährliche Liebschaften“ oder Greenaway „Kontrakten des Zeichners“ inspiriert. Vor allem verbinden sich Opulenz und eine detailreiche Personenführung des leichten Spiels miteinander. Die Verwirrung der Gefühle beziehungsweise die Übergriffe der Mächtigen, die Librettist Giovanni Faustini aus Ovids Metamorphosen für Cavallis Oper in die Götterwelt um Jupiter herum verlegt hat, wird hier sozusagen in die Realität der Entstehungszeit projiziert. Nicht diverse Götter und Nymphen zelebrieren sexuelle Begehrlichkeiten und Irritationen, samt daraus resultierender handfester Machtkämpfe, sondern das, was man sich unter barockem Hochadel vorstellt. Hier wohnt kein Gott in den Sälen eines Palastes, hier tanzt ein König.

Äußerlich historisch – innerlich gegenwärtig: Cavallis „La Calisto“ in der Inszenierung von Jetske Mijnssen. Foto: Monika Ritterhaus
In so einer Einlage ist Alex Rosen dabei so witzig und ver-rückt, dass die Höflinge es auch versuchen. Meistens ist dieser König, der eigentlich Jupiter ist, aber als Frau (Diana) auf der Pirsch nach der schönen Hofdame Calisto (fabelhaft: Lauranne Oliva). Er küsst sie (als Diana) so, dass sie tief irritiert ist. Als mit Kopfstimme singende Diana erkennen sie den Göttervater auf Abwegen jedenfalls alle nicht. Die Königin (Anna Bonitatibus als Queen Juno) macht kurzen Prozess mit der vermeintlichen Konkurrentin, serviert sie ab und lässt ihr von diensteifrigen Höflingen die Haare entwürdigend stutzen. Die Entlarvung der Doppelmoral der Adligen besorgen sie alle selbst. Am Ende erlaubt sich Mijnssen dann doch eine Pointe. Die von Jupiter gerade noch gerettete und wie eine Himmelskönigin herausgeputzte Calisto ersticht ihn. Was bei einem König schwer, bei einem Chefgott gar nicht vorstellbar ist. Immerhin hatte er vorher seinen Spaß. Auch alle anderen Protagonisten fühlen sich sichtbar wohl in dieser Kulisse und in ihrer Aufmachung. Eigentlich bekommt Calisto von Jupiter am Firmament einen Platz als Sternbild. In Aix-en-Provence wurde daraus so etwas wie ein Funksignal in die ferne Zukunft selbstbestimmter Frauen.
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