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Puccinis „La Bohème“ an der Komischen Oper Berlin. Foto: Iko Freese / drama-berlin.de
Puccinis „La Bohème“ an der Komischen Oper Berlin. Foto: Iko Freese / drama-berlin.de
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Das letzte Foto – Puccinis „La Bohème“ an der Komischen Oper Berlin

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Henry Murgers Vorlage zu den „Bohème“-Opern von Leoncavallo und Puccini wurde bezeichnenderweise vom Dichter der ersten Räterepublik, Erich Mühsam, unter sozialistischem Aspekt betrachtet. Barrie Koskys Neuinszenierung verzichtet auf politische Dimensionen, sie konzentriert sich ganz auf die Begegnung junger Leute mit dem unerwartet in das heitere Leben einbrechenden Tod. Die Premiere wurde ob ihrer Spielfreude und lauten Gesangs fast einhellig goutiert.

Die Geschichte der Opernaufführungen von Giacomo Puccinis „La Bohème“ an der Komischen Oper Berlin ist ein eine Folge spannender Produktionen mit zum Teil ungewöhnlichen Bildern, wobei etwa die Inszenierung von Harry Kupfer stärker im Gedächtnis geblieben ist als die letzte von Andreas Homoki.

Barrie Kosky stellt sich diesem Vergleich, und ihm gelingt dabei zugleich eine Erstaufführung – denn die vorangegangenen Produktionen erfolgten, damals ein Stilmerkmal dieses Hauses, in deutscher Sprache; nun also erstmals in italienischer Originalsprache.

Der inszenierende Hausherr ist dabei bemüht, die gängigen Klischees zu brechen. Signifikantes Merkmal bildet dabei seine Erkenntnis, dass die Handlung (im Original: „um 1830“) im Zeitalter der fotografischen Reproduktion spielt. Und da die jungen Bohèmiens allesamt Avantgardisten sind, so wird aus dem Maler Marcello ein Fotograf, mit dessen Camera obscura aber auch seine Mitbewohner hantieren dürfen. Den unverkleidet nackten Bühnengrundraum begrenzt im ersten und vierten Bild nach hinten eine Wand mit Daguerreotypie-Platten, im zweiten Bild ein schwarz-weißes Breitwand-Panorama von Paris, im dritten die alte Aufnahme einer Gasse, mit einem Schlitz darin als Auftritt (Bühnenbild: Rufus Didwiszus).

Die singenden Personen sind reduziert, doch die Partitur kann auf die Randfiguren nicht verzichten und so auch die von Jordan de Sousa in forciertem Tempo und etwas zu laut interpretierte Aufführung – auch wenn die Nebenrollen, wie Musettas betuchter Liebhaber Alcindoro (Christoph Späth), ein Händler (Matthias Sprenker), der Sergeant der Zollwache (Jan Frank Süße) und Zöllner (Tim Dietrich) kaum auffallen.

Eine Rolle aber ist ganz entfallen, der die Miete eintreibende Hausbesitzer Benoit. Diese Bariton-Partie im ersten Bild ist aufgeteilt unter die vier in Wohngemeinschaft lebenden Künstler: abwechselnd setzen sie dessen Hut auf und übernehmen dessen Sätze im nur gespielten Dialog abwechselnd und parodierend á la „Gianni Schicchi“. Diese Idee des Regisseurs und die turbulente Umsetzung trägt zum überbordend ausgelassenen Spiel bei. Eine Bodenklappe auf der mehreckigen Podesterie führt ins Treppenhaus, in dem Coline wie eine Katze jault, der auf den Schwanz getreten wird. Auch Mimi streckt ihr von Rodolfo besungenes kaltes Händchen aus dieser Versenkung. Rodolfo und Mimi, beide keineswegs unerfahren in Liebesdingen, finden dann zusammen für einen kurzen gemeinsamen Lebensabschnitt – und Rodolfo macht gleich ein Foto von seiner neuen Flamme.

Der zweite Akt hat nichts gemein mit Weihnachtsmarkt und herkömmlichem Straßencafé Momus. 24 Kinder als schwarz gewandete Pierrots mit schwarzen Nasen, halbnackte Stricher und Liebesdamen, Nonnen, Soldaten und allerlei Halbweltgesindel bevölkern die rotierende Drehscheibe, inklusive einer kleinen Bühne auf der Bühne für Musettas Solo-Nummer und fürs Schwofen gleichgeschlechtlicher Paare.

Victoria Behr hat das bunte Treiben jenseits einer zeitlichen Festlegung, mehr Zwanzigerjahre als 19. Jahrhundert, wild und farbig, mit merklichem Zugriff auf den Fundus, kostümiert. Selbst Parpignol (Emil Lawecki) ist hier kein Trompetenverkäufer, sondern eine Mischung von Dionysos und gefallenem Engel: vermutlich will Kosky mit dieser Kunstfigur Momos, den Bruder des Todesgottes Thanatos, verkörpern – als Vorahnung auf die Konfrontation der jungen Leute mit dem Tod im Schlussbild.

Im dritten Bild sind die Figuren die Stimmen der Nacht und des beginnenden Morgens, Zoll und Händler allesamt nur aus dem Off zu vernehmen. Der betrunkene Rodolfo stellt Fotos mit den Schönen der Nacht auf der Straße, und im Hintergrund Glück klirren Gläser rhythmisch zum Gesang der Animierdamen in der Kneipe „Dal Cabarè“. Die Absprache von Rodolfo und Mimi, doch lieber wieder getrennte Wege gehen zu wollen, passiert hingegen weitgehend an der Rampe.

Im letzten Bild wird auf das Bett verzichtet, Mimi kurzzeitig auf die zusammengeschobenen Kulissenprospekte des Fotografen gebettet, dann auf einen Stuhl gesetzt. Bisweilen nivelliert die italienische Sprache durchaus hilfreich Diskrepanzen zwischen gesungenem Wort und Szene, nicht nur was Rodolfos Malen angeht. Musetta schenkt der sterbenden Mimi keinen Muff sondern Seidenhandschuhe – wobei man sich, angesichts des Ballkleids der Mimi im letzten Bild, wundern darf, dass der sie zuletzt aushaltende Graf ihren Wunsch nach Handschuhen negiert haben soll. Mimi bittet Rodolfo um ein letztes Foto, welches er von ihr schießt; Musetta und die Mitbewohner verlassen die Spielfläche und auch Rodolfo rennt angesichts des Todes weg – während die tote Mimi über den Schlussakkord hinaus im Spot alleine sitzen bleibt.

Der intendierten jugendlichen Ausstrahlung entsprechend, ist die Oper durchaus rollendeckend besetzt. Ein beachtliches Rollendebüt liefert Ensemblemitglied Nadja Mchantaf als Mimi, mit etwas zu forcierter Höhe und atemberaubenden, gefährlich echt wirkenden Hustenanfällen.

Vera-Lotte Böcker als Musetta obsiegt stimmlich und figürlich, Jonathan Tetelman legt den Rodolfo mit Stentortönen heldisch an. Überzeugend Günter Papendell als Marcello, Philipp Meierhöfer als Colline (mit nur einem Büchlein im Pelzmantel) und Dániel Foki als Schaunard. Der von David Cavelius einstudierte Chor gefällt auf und hinter der Szene, beachtlich auch der von Dagmar Fiebich einstudierte Kinderchor.

Lang und heftig feierte der Schlussapplaus des Premierenpublikums alle Beteiligten und eine Produktion der lauteren Töne, die deutlich bemüht war, jeglicher Rührseligkeit entgegenzustreben, die aber doch anrührende Momente von Puccinis Partitur, insbesondere am Ende, nicht zu verhindern vermochte.

  • Weitere Aufführungen: 8., 14. Februar, 17., 22., 30. März, 4., 19., 28. April, 15. Mai und 29. Juni 2019.

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