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Jennifer O’Loughlin. Foto: © Marie-Laure Briane
Jennifer O’Loughlin. Foto: © Marie-Laure Briane
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Digitales Belcanto-Glück vom Gärtnerplatz: Donizettis „Anna Bolena“

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Die bald 50 Jahre alte Inszenierung von Humperdincks „Hänsel und Gretel“ machte den Anfang, am 4. Dezember folgte Donizettis „Anna Bolena“ und am 17. Dezember gibt es im Staatstheater am Gärtnerplatz die Premiere von Eduard Künnekes Operette „Der Vetter aus Dingsda“. Alles digital. Die beiden Münchner Musiktheater-Intendanten beißen die Zähne zusammen – mit (Video-on-Demand)-Aufführungen. Die Online-Premiere von „Anna Bolena“ erwies sich als ernstzunehmende Meisterung der anspruchsvollen Oper.

Nach dieser digitalen Premiere gibt es keinen Grund zum Lamentieren, ausgenommen natürlich die digitale Mauer zwischen Aufführung und Publikum. Die Vorstellung endete ca. um 22.10 Uhr. Aus Donizettis 3,5 Stunden dauerndem und Verdis „Don Carlo“ in vielerlei Hinsicht vorwegnehmendem Belcanto-Frauen-Historien-Drama erklangen bis zu Annas wiederholter Final-Cabaletta immerhin 155 Minuten. Das ist fast so lang wie die letzte Produktion von „Anna Bolena“ mit Edita Gruberová und Vesselina Kasarova an der Bayerischen Staatsoper vor fast dreißig Jahren. Keineswegs hing die Spannung durch, selbst wenn die durchschnittliche Teilnehmerzahl bei YouTube von knapp 500 in der ersten Halbzeit bis zur großen Wahnsinnsarie am Schafott langsam auf 430 absackte. Das hat allerdings mehr mit Chips-, Lieferando- oder Kühlschrankverhalten zu tun als mit schwächelnder Musiktheater-Kondition. Jennifer O‘Loughlin machte dem Melodramma mit einem gut gefassten, durchdringenden Spitzenton das für die Titelfigur tragödische Ende. Statt des Fallbeils fällt darauf O‘Loughlins bleischwerer Klavierauszug mit dumpfem Aufprall darnieder.

Es hätte laut Ante-Coronam-Planung ‚nur‘ eine konzertante Aufführung werden sollen, die Spielleiter-Frischling Maximilian Berling mit Inkaufnahme an der Rampe postierter Notenständer halbszenisch aufmöbeln durfte. Inge Schäffners schöngemachte Fundus-Bestände bleiben im genrespezifischen Dunkel. Und hinter den Fenstern des Londoner Towers anno 1536 sieht man Wolkenspiele am weißblauen Himmel. Meistens regnet oder graupelt es in poetischer Harmonie zur Gemütsverfinsterung der Liebenden und Lieblosen. Der von Gaetano Donizetti und seinem Librettisten Felice Romanis zum belkantesken Fiesling gesteigerte Henry VIII. serviert seine zweite Frau Ann Boleyn mittels In-Flagranti-Situation ab und interessiert sich in der für Mailand 1830 bestimmten Oper schon weitaus früher für die skrupulöse Jane Seymour. In der Pause gab es Aufzeichnungen von Gesprächen des Intendanten Josef E. Köpplinger mit Beteiligten über Donizettis großartige Musik zu Ehebruch, Heiratskarrierismus und Religionsermächtigung.

Als Publikumsstatisterie saßen 50 bis 60 Hausangestellte aller Abteilungen im Saal, zauberten von dort mit Jubel und Applaus authentische Live-Atmosphäre. Indes kreierte PR-Mitarbeiter Marc Schmuck im YouTube-Chat einen neuen Theater-Beruf: Neben der Übertitel-Inspizienz in der Licht-Loge gibt es jetzt auch die Chat-Inspizienz. Diese hat einerseits ein Auge auf die Herzchen-Stürme, die für den beeindruckenden Mezzo Margarita Gritskova als Nebenbuhlerin Giovanna, München Gärtnerplatz-Divino Lucian Krasznec als Percy und den sehr jungen, deshalb als triebgesteuerter Heinrich VIII. besonders glaubhaften Sava Vemic heftiger hereinfluten als für die anderen. Hier bildet sich möglicherweise ein zeitgemäßer Aktionsraum für Claqueure.

Es ist ein großartiger Abend. Erstens, weil er trotz Statuarik und generell zu großem digitalen Abstand sogar kritischen Belcanto-Junkies Respekt abnötigt. Nach „Maria Stuarda“ hat das Gärtnerplatztheater auch hier seine junge Besetzung zusammen, die berührt und beeindruckt. Da stehen sie alle an der Rampe und suchen die Fixierung zum Orchester, das mit den Noten zu Tony Burkes Arrangement für solistische Besetzung im Graben sitzt und zu feinen Abstimmungen findet. Unter Howard Arman klingt es am Endgerät teils filigran packend, liefert in der ersten Hälfte aber wegen der kleinen Besetzung mitunter noch lückenhafte Klänge. Der Chor erfüllt seine Aufgaben mit angemessenem Schmelz in Donizettis oft unterschätzten Kollektiv-Kantilenen einer höfischen Überwachungsgesellschaft (Einstudierung: Pietro Numico). Die Videoführung Meike Eberts und Raphael Kurigs greift nach der Pause zu etwas verwegeneren Mitteln wie zerfließenden Bildern und manierierten Perspektiven, während sie davor Überblendungen von Instrumentalsolisten und Bühnengeschehen favorisierte. Man steckt also in der digitalen Findungsphase zwischen schlichter Totale und eigentlich unnötigen Spielen mit dramaturgisch funktionalisierten Kameras.

Wenn bei der digitalen Übertragung nicht alles täuscht, favorisiert die Theaterleitung für das romantische Belcanto-Fach helle, junge und tendenziell vibratoarme Stimmen. Nur Timos Sirlantzis gerät ungerechterweise durch die großen Striche im Part von Annas Bruder Rochefort ins Hintertreffen. Einige Unebenheiten hörte man am Screen, die im Theater höchstwahrscheinlich unbemerkt geblieben wären. Aber das ändert nichts daran, dass dem Ensemble inklusive Anna-Katharina Tonauer als verliebter Page Smeton, Juan Carlos Falcón als Sir Hervey und der Mitwirkung aus dem Orchestergraben ein schöner Abend zu verdanken ist, der die Sehnsucht nach ‚echtem‘ Theater, ‚echten‘ Begegnungen und physisch nahen Musikerlebnissen zum heftigen Glühen steigerte. Mit dieser schwierigen Oper, die man ohne telegene Simplifizierungen auf hohem Niveau bewältigte, ist das eine umso glücklichere Gesamtleistung in der wegen der pandemischen Rahmenbedingungen um eine Woche verschobenen Premiere. Unbeantwortet bleiben von Seite des Hauses die Chat-Fragen, warum der Herrenchor auf der Bühne keine Socken, der Page aber Hosen trägt.

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