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Der zweite Kirschgarten an der Neuköllner Oper. Foto: © Peter van Heesen

Der zweite Kirschgarten an der Neuköllner Oper. Foto: © Peter van Heesen

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Freiheit statt Ausbeutung – „Der zweite Kirschgarten“ an der Neuköllner Oper als Musical frei nach Anton Tschechow

Vorspann / Teaser

Dieser Kirschgarten ist so nutzlos wie die Menschen, die sich von ihm nicht lösen können. Bonsai-Bäumchen stehen in einem Glaskasten, der sich beliebig hin- und herrollen lässt, ein Spielzeug für alternde Kinder. Doch an die Wand projiziert werden sie plötzlich riesengroß, erdrückend, bedrohlich. Ein Garten – ja, was ist er denn alles? „Wurzel und Frucht, Zukunft und Zuflucht, Herrscher und Beute“, singt das Ensemble der Neuköllner Oper und umreißt damit gleich zu Beginn die Dimensionen, die seine Geschichte ausloten will.

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Erstaunlich eng an Anton Tschechows berühmte Tragikomödie angelehnt, versetzt „Der zweite Kirschgarten“ diese aus der depressiv gelähmten russischen Gesellschaft kurz vor der Oktoberrevolution in unsere deutsche Gegenwart – die ohne Vergangenheit nicht zu haben ist. Librettist Martin G. Berger lässt diesen „zweiten“ Kirschgarten bereits Erinnerung sein: der erste stand einst in Namibia, zu goldenen Kolonialzeiten „Deutsch Süd-West“ genannt, wo an den indigenen Stämmen der Herero und Nama Völkermord verübt wurde. Ein paar afrikanische Figürchen stellt Ausstatter Philip Rubner quasi als Souvenirs in den Bühnenhintergrund. Sie sind als Symbol für deutsche Schuld schlechthin zu begreifen, die im Holocaust gipfelte, der hier aber nicht konkret angesprochen wird. „Ich bin die Enkelin der größten Schuld“, singt Andrea, die abgewrackte Besitzerin des Gartens. Eine Schuld, die nicht ihre ist, die sie dennoch fühlt und sühnen muss. Der Garten, der ständig daran erinnert, mit „zerwurmten“ Kirschen und einer „abgerockten“ Hütte, soll nun verkauft werden. Andrea hatte sich nach Paris zurückgezogen, ihr Vermögen verprasst. „Mama gibt aus“, singt ihre Tochter Anja – die Babyboomer lassen der Gen Z wenig übrig, außer ungelösten Problemen natürlich. So will sie mit dem ewigen, sich überlegen links gerierenden Studenten Trofimov abhauen, sich ein eigenes Leben aufbauen – „was kümmert mich die Schuld meiner Eltern?“ Da steht sie drüber ebenso wie über veralteten Beziehungsmodellen.

Wie genau das Tschechows „Kirschgarten“ nachgebildet ist, muss das gut gemischte, recht junge Publikum gar nicht wissen. Die Szenen sprechen aktuelle Themen unserer Gesellschaft in derart pointierten Dialogen an, dass man sich einfach selbsterkennend amüsieren kann. Tschechow selbst hielt sein Drama für eine Komödie und wünschte sich mehr Leichtigkeit für ihre Darstellung. Also ist es auch legitim, aus dem Stück ein fetziges Musical zu machen – und es funktioniert! 

Komponist Wolfgang Böhmer hat an der Neuköllner Oper schon öfter vorgemacht, wie man ernste Themen unterhaltsam und zugleich unter die Haut gehend vermittelt, etwa mit „Stella – das blonde Gespenst vom Kurfürstendamm“, einem „Singspiel“ um die jüdische Gestapo-Agentin Stella Goldschlag, oder mit „Stimmen im Kopf“, einem Psychiatrie-Drama. Seine Musik mischt höchst einfallsreich Elemente aus Jazz, Chanson und Pop. Dabei verlässt sie häufig ihre tonale Basis, schwebt quasi darüber, macht es den Sänger*innen dadurch in Intonation und Gedächtnisleistung schwer … Horn, Trompete, Klarinette, Kontrabass und das osteuropäische Bajan geben dem die Farben, auf der Bühne ins Geschehen integriert und von Magnus Loddgard am Klavier geleitet, der sich auch manchmal ganz locker in die Handlung einmischen darf. Kleine ironische Brüche sorgen so für Distanz, ein fast Brechtisches Element. 

Die Darstellerinnen und Darsteller versehen ihre schwierigen Parts mit Bravour, Herzblut und Humor. Nur schade, dass die Songtexte nicht immer in aller Geschliffenheit zu verstehen sind – Projektionen wären hilfreich gewesen. Dafür unterstreicht Choreograph Paul Blackman den emotionalen Gehalt der Songs durch differenzierte Bewegungsabläufe. Julia Klotz als Andreas Adoptivtochter Varja zieht so das Publikum unmittelbar in Bann: vehement beklagt sie ihr Dasein als einzig Verantwortliche für den Kirschgarten, der sie mit „kiloweise Kirschen“ erdrückt, und doch blüht er so „beschissen schön“. Sie ist gewiss die sensibelste unter den Figuren, deren Ambivalenzen die Regisseurin Andrea Liedtke zuweilen ironisch überzeichnend nachspürt. Onkel Gerald (Markus Schöttl) chargiert zunächst als heruntergekommener Businessman, der auf Denglisch kalauert und laut juchzt, wenn er auf seinem Smartphone gestiegene Aktienkurse erblickt. Zu amüsanter Form läuft er auf, wenn er das Geschäftsgebahren zur Versteigerung des Kirschgartens besingt: „protzig, klotzig, hinterfotzig“. 

Philip Rubners funktionales Bühnenbild, das auf blauen Stufen ebenso Hierarchien anzudeuten wie in Unordnung zu bringen vermag, wird da zur Showtreppe. Auch Franziska Junge als Geralds Schwester Andrea torkelt durchgeknallt durch die Szene, was später bei wachsender Verzweiflung glaubwürdiger gewesen wäre. Dass sie sich in ihrer Aufmachung kaum von ihren Töchtern abhebt, könnte sie dem Jugendwahn verfallen und alle drei als Vertreterinnen eines schwachen, verblassenden Europas kennzeichnen. Ein starkes Gegenbild ist „Lolo“ Lopachin, Varjas Ex-Freundin, die als schwarze Geschäftsfrau mit der Ersteigerung des alten Kolonialguts endlich Macht über die weiße Sippe erlangen kann. Tina Ajala verkörpert sie ungerührt im violetten Seidendress, kapitalistisch positiv denkend, denn dass auf dem vertrauten Gelände nun Airbnb-Wohnungen entstehen sollen, ist einfach „Transformation“. Das ist „normal“, beschwichtigt sie die letzten Bedenken. Für Sebastian Trofimov (Samuel Franco), der dort jahrelang schmarotzte, ist Lolo einfach nur die „Heuschrecke“ – sein Zauberwort ist „Distraktion“, wenn er sich mit der ebenso taffen wie naiven Anja (Laura Goblirsch) auf den Egotrip nach Hawai begibt. Den ganzen Unsinn mit „links und rechts“ hat er nun abgelegt, es gibt nur noch „nach vorne zurück“. Zum Schluss bekennen sich alle mehr oder weniger zum „neoliberalistischen Schmarrn“, der nicht „Ausbeutung“, sondern „Freiheit“ bedeutet. Trauer und Schmerz fühlt nur Varja, doch als der Kirschgarten im Feuer leise vor sich hinbrutzelt, fragen sich alle, wo jetzt eigentlich ihr Zuhause sein wird.

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