„Bei der Thüringer Landtagswahl am Sonntag geht es um viel: AfD-Rechtsaußen Höcke könnte Wahlsieger werden, die CDU mit der Wagenknecht-Partei anbandeln“, publizierte die Tagesschau online um 19:02 am Vorabend der Thüringer Landtagswahlen. Also genau zwei Minuten nach dem offiziellen Beginn der „Konzertanten Wahlerinnerung im Galaformat“ im schicksalsträchtigen Gebäude des Deutschen Nationaltheaters Weimar. „Wofür wir kämpfen“ ist das Motto des Kunstfests Weimar 2024. Deren Leitung und Macher*innen kämpfen unermüdlich. Sie beschwören die Dämonen des Populismus im Konzeptumfeld der Ausstellung „Das andere Russland“ zu Memorial. Sie betreiben aus positiver Tradition und innerem Wollen intensive, couragierte, emotionale Projekte zur Erinnerungskultur, für die Opfer und Überlebenden des Konzentrationslagers Buchenwald. Und sie reflektieren die Auswirkungen von Online-Informationen und Social-Media. Kaum ein Kulturfestival agiert so dezidiert auf das aktuelle Zeitgeschehen wie das Kunstfest Weimar.
Grün wie Kermit und Lawinen-Warnung: Das Kunstfest Weimar veranstaltete eine „Konzertante Wahlerinnerung im Galaformat“
Die lange geplante Gala musste dennoch Stückwerk bleiben. Schorsch Kamerun, der Edel-Performist mit Kick ins Kabarett moderierte. The-Police-Drummer Stewart Copeland sendete nach seinem Auftritt im Weimarhallenpark einen Videogruß mit dem Wunsch zu bestmöglichen Wahlergebnissen in Thüringen. Und das Goethe-Zitat „Ein Volk, das seine Fremden nicht ehrt, ist dem Untergang geweiht“, sah man in Sachsen und Thüringen nie so häufig auf Transparenten wie in den letzten Sommerwochen. Das alles floss in diese Gala ein, für die es nur eine einzige Probe am Nachmittag gab und deren vorgesehenes Programm fast doppelt so lang gedauert hätte. Das Galaformat „Come as you are“ (Komm wie du bist) im bestens gefüllten Deutschen Nationaltheater war eine Einladung an alle und definitiv eine mutige Aktion. Sie fand fast in der Mitte des am 21. August begonnenen und am 8. September endenden Kunstfests statt. Offensichtlich passt der seit Jahren vom Kunstfest Weimar eingeschlagene Kurs nicht zu vielen Ideen der potenziellen Wahlsieger AfD. Sollte der Rechtsruck nach den Thüringer Landtagswahlen erfolgen, wäre diese konzertante Wahlerinnerung ein Singen und Reden auf selbst betreffender Risikospitze des natürlich auch von Landessubventionen abhängigen und größten Avantgarde-Festivals der neuen Bundesländer.
Eine wesentliche Absage aus persönlichen Gründen gab es zwei Tage vor der Gala: Denn die in Suhl geborene und großteils in Leipzig lebende Schauspielerin Sandra Hüller war fast die einzige Protagonistin Thüringer Provenienz im Programm. Aber (auch als Videogruß) hatte es der Mediendesigner und Polit-Chansonnier Tommy Neuwirth heraus: Er plädiert in seinem satirischen Liedchen für die CDU, nimmt deren Rechtsruck als Tüpfelchen auf dem I eines umfassenden Wandels und fühlt sich mit seiner fiktiven Patchworkfamilie bei dieser Wahlentscheidung richtig high: „Das Leben ist geil mit CDU. Ich sage Me, ich sage You, ich sage C D U! Thüringen, ich wähle CDU. Thüringen, ich sage damit DU!“ Heiter, didaktisch und ein bisschen verrückt ist Neuwirths kleines Ironie-Wunder, das er mit einem Bewegungsduktus garniert, den man in vormodernen Zeiten als „typisch schwul“ rezipiert hätte. Die artifizielle Annäherung zwischen Gendergleichheit und konservativer Volkspartei erwies sich als der mit Abstand witzigste, hintergründigste und dabei maliziöser Beitrag im Programm.
Sonst kamen keine Parteinamen vor, auch keine groben oder latent gespitzten Schuldzuweisungen an politische Akteure und Gruppen egal welcher Couleur. Auf der Bühne stand ein transparentes Melonenzelt mit einem Karussell-Sitz im Schwanenformat darin. Der Theaterplatz mit dem Goethe-Schiller-Denkmal war ständig in Live-Schalte. Gegen Ende mischte sich Kamerun draußen unter die Flaneure, verlas nicht ganz sicher für Außenstehende leicht wirr wirkende Texte. Damit brachte er damit einige Passanten zum solidarisch-amüsierten Staunen, andere zum ratlos irritierten Glotzen. Gut Gemeintes und Groteske gingen also fast ineinander über. Eva Mattes las Erich Kästners zivilisationskritisches Gedicht „Die Entwicklung der Menschheit“, die auch nach der Atomspaltung die alten Affen bleiben würde, und warnte vor einer der Eskalationslawine vor fast hundert Jahren vergleichbaren Zuspitzung. René Marik ließ seine Puppen parlieren und lustig gestikulieren. Es ging da eher lustig um „Grün wie Kermit“ als um einen Teil der Ampel.
Dass aus der Musikgala eine Textgala wurde, lag nach einem heftigen Auftritt der 2022 gegründeten Band Horizontaler Gentransfer (inklusive Kritik am krisenbelasteten Bahnverkehr) in der Power der gesprochenen Beiträge. Nils Lauterbach und Lydia Ziemke setzten eine beklemmende Zäsur aus ihrer Kunstfest-Performance nach dem „Klimastück“ von Chris Thorpe: Ein Paar unterhält sich über die bevorstehende Beseitigung des Bruders und Schwagers in einer mit Stickstoff gefüllten „Todeszelle“. Johanna Geißler als Mädchen in rosa Kleid und Martin Esser lieferten später das sanft geschärfte Zwiegespräch über eine Uniformierung von Menschen und das dagegen polare Anerkennen individueller Personen und Seinsformen.
Anwesende wussten, was gemeint ist, und brachen immer in jauchzenden Jubel aus. Das Kunstfest Weimar steht ein für die positiven Werte der Demokratie, der positiven Utopien von Weimarer Persönlichkeitssternen sowie eine unablässige Erinnerung an den Holocaust und die großen Katastrophen des 20. Jahrhunderts bis zur Gegenwart. Eine solche diskursive Schnittstelle zwischen Kunst und Politik ist nötig, egal mit welchen Ergebnissen die Thüringer Landtagswahlen enden.
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