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Staatstheater Nürnberg Oper. „Lucia di Lammermoor“ Oper von Gaetano Donizetti. Musikalische Leitung: Jan Croonenbroeck. Regie: Ilaria Lanzino. Premiere: 05.11.2023.  Im Bild (v.l.n.r.): Friedrich Kern (Glasharmonika), Andromahi Raptis, Sergei Nikolaev, Nikolai Karnolsky, Chor. Foto: Ludwig Olah.

Staatstheater Nürnberg Oper. „Lucia di Lammermoor“ Oper von Gaetano Donizetti. Musikalische Leitung: Jan Croonenbroeck. Regie: Ilaria Lanzino. Premiere: 05.11.2023.  Im Bild (v.l.n.r.): Friedrich Kern (Glasharmonika), Andromahi Raptis, Sergei Nikolaev, Nikolai Karnolsky, Chor. Foto: Ludwig Olah.

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„Luca / Lucia“ – Donizettis Belcanto-Legende in melancholischem Edelschimmer in Nürnberg

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Urbane Kultur-Synergie. Am Sonntag-Vormittag gab es im Germanischen Nationalmuseum zur Ausstellung „Meisterwerke aus Glas“ ein Konzert mit Glasflöte. Wenige hundert Meter weiter geht es in der Kunsthalle Nürnberg um „Positionen queerer Gegenwartskunst“. Dazwischen Co-Branding für beide Themen in der Oper Nürnberg. Zur Premiere gelangte Gaetano Donizettis Belcanto-Meisterstreich aus dem Jahr 1835: Andromahi Raptis singt eine*n bewegenden „Luc(i)a di Lammermoor“ mit Glasharmonika, Ilaria Lanzino inszeniert mit „Tatort“-Präzision, Sergei Nikolaev brilliert als Edgardo.

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Die Oper nach dem Roman des Modeautors Walter Scott wirkte intensiv. In Flauberts „Madame Bovary“ und Tolstois „Anna Karenina“ besuchen die Titelfiguren Vorstellungen über eine Frau, deren Liebe zum Gegner ihres Familienclans aus karrieristisch-politischen Gründen zerstört wird und die ihren vorgesehenen Bräutigam umbringt. In Nürnberg bewegt und brilliert jetzt mit einem überaus starkem Partiendebüt das Ensemblemitglied Andromahi Raptis als „Lucia di Lammermoor“. Sogar musikhistorisch korrekt mit Glasharmonika statt der von Donizetti bei der Uraufführung 1835 in Neapel als Notbehelf akzeptierten Querflöte. Friedrich Kern stand mit seinem Instrument auf der Bühne und lieferte mit Raptis irisierende, fast außerirdische Klänge. In Nürnberg war das die erste von gleich zwei herzzerreißenden Finalszenen. Zum Besten der konzeptionellen Handlungsbeweisführung gab es größere Striche, vor allem im dritten Akt.

Die Lippen auf dem Plakat und die Farbspritzer auf dem Transparent zum Stück – beides in Rainbow-Colours – zeigten an, dass die queere Konzeption am Staatstheater zum Kunsthalle-Ausstellungsprojekt in Beziehung steht. Aus Lucia wird Luca – also ein Mann – und damit eine schon wieder klassische ‚Hosenrolle’. Sonst änderte sich kaum etwas. In Ilaria Lanzinos spannender Lesart gibt es sogar eine Leiche weniger als im Original. Denn die vom Bräutigam Arturo zur Braut Emilia gewordene Zweckheiratskandidatin für Luca erkennt den ganzen Lügenschmäh und steigt frustriert aus. Das beschert der ihre einzige Gesangsszene intensiv gestaltenden Sara Šetar eine Schlüsselrolle. Lanzino vergaß bei ihrer schwulen Tragödie von Luca und Edgardo also nicht den objektivierenden Funken Empathie für jene, die in den Fesseln ihrer toxischen Heteronormativität die Katastrophe heraufbeschwören.

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Staatstheater Nürnberg Oper. „Lucia di Lammermoor“ Oper von Gaetano Donizetti. Musikalische Leitung: Jan Croonenbroeck. Regie: Ilaria Lanzino. Premiere: 05.11.2023. Im Bild (v.l.n.r.): Ivan Krutikov, Andromahi Raptis, Sara Šeta. Foto: Ludwig Olah.

Staatstheater Nürnberg Oper. „Lucia di Lammermoor“ Oper von Gaetano Donizetti. Musikalische Leitung: Jan Croonenbroeck. Regie: Ilaria Lanzino. Premiere: 05.11.2023. Im Bild (v.l.n.r.): Ivan Krutikov, Andromahi Raptis, Sara Šeta. Foto: Ludwig Olah.

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Diese Romeo-und Julius-Variante funktionierte klar und plausibel. Die Intrige aufgefangener Briefe ersetzte Lanzino, die sich genau mit vielen tagesaktuellen Problemen queerer Communities auseinandersetzt, durch eine Gewaltattacke aus der Familie gegen Edgardo. Diesem klaut man – drastisch ausgespielter Fall von antischwuler Gewalt – das Smartphone und bläut Luca dann mit Fake Messages den vermeintlichen Treuebruch ihres Lovers ein. Alles nachvollziehbar wie in einem guten „Tatort“. Anstelle eines Anfalls von Wahnsinn phantasiert Luca ihre schwule Hochzeit im Kreis ihrer queeren Freund*innen (Choreographie: Valentí Rocamora i Torà). Edgardo ersticht sich nicht selbst, sondern wird brutal erstochen. In Gestalt von Nürnbergs sympathischem Aufsteigertenor Sergei Nikolaev haucht dieser seine liebende Seele aus – mit berückend schönen Tönen. Nur der Bariton Ivan Krutikov kommt als böser und auf’s Familienheil bedachter Bruder Enrico etwas ins Forcieren. Der neue Kapellmeister Jan Croonenbroeck hat eine glückliche Hand für Donizettis melancholischen Edelschimmer. Die Staatsphilharmonie Nürnberg – unter diesen besonders Soloklarinette, Bratschen, Celli und die schicksalsschwangeren Pauken – leuchten im optimalen Einklang. Lanzino entwickelt Mitgefühl sogar für den queer-feindlichen Priester Raimondo (erst knurrig, dann schnurrig: Nicolai Karnolsky), wertet die von der Regie oft vernachlässigte Alisa zur Solidarkomplizin Luc(i)as auf (voll gut: Anna Bychkova) und macht Donizettis Erzschurken Normanno zum Schwulenhasser (profilierte Leistung: Joohoon Jang). Emine Güner setzt das Geschehen aus dem schottischen Spätbarock in die Gegenwart und kontrastiert Luc(i)as postpubertäres Jungenzimmer mit der Schachbrett-Uniformität des heteronormativen Establishments. Der stimm- und spielprächtige Chor (direktiert von Tarmo Vaask) betreibt Sektkelch-Missbrauch wie in einer von Froststarre befallenen Operette.

Die Liebesszenen bis zum angedeuteten Blowjob sind unverkrampfter als in queeraffinen Soaps. Andromahi Raptis bewegt sich mit einer Natürlichkeit und selbstverständlichen Emotionalität so, als sei sie auf der Bühne schon oft ein grundsympathischer junger Mann gewesen. Dabei muss Raptis weder auf die motivierten Koloraturen noch selbstgewählten Spitzentöne verzichten. Lautstarker Applaus.

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