Zuletzt erklang „La sonnambula“ bei den Tiroler Festspielen Erl im Winter 2018/19 mit der berührenden wie bewundernswert stilaffinen Italienerin Bianca Tognocchi in der zwischen warmer Emotion und halsbrecherischen Verzierungen positionierten Titelpartie. Am 28. Dezember brillierte die längst zu einem weltweit führenden Belcanto-Leuchtturm gewordene Jessica Pratt als Waise Amina. Die Australierin legt das künstlerische Schwergewicht auf atemberaubende Perfektion. Nach einer szenisch und musikalisch eher grob gestrickten Premiere mit „Lucia di Lammermoor“ als Psychotikerin in konfusem Theaterdonner-Wahnsinn gab es mit einem Traumensemble unter Andrea Sagripanti prachtvolles Opern-Glück und verständliche Begeisterung.
La sonnambula bei den Tiroler Festspielen Erl am 18.12.2025. Foto: Scheffold Media
„Nachtwandlerin“ in Pink und Königinnenblau: Jessica Pratt brilliert in Erl
Die Handlung von Felice Romanis Textbuch nach einem Ballett von Ferdinand Hérold ist bekannt: Die Waise Amina wird in der Nacht vor ihrer Hochzeit im Herbergszimmer eines verdächtig empathischen Adeligen gefunden, kann sich aber an nichts erinnern. Aminas guter Leumund und folgerichtig das Verlöbnis mit dem Gutsherren Elvino kippt. Aber alles wird gut, als alle Amina beim Nachtwandeln auf dem schmalen Steg über dem Mühlrad ihrer Pflegemutter Teresa beobachten. Beschädigter Ruf und die Verlobung mit dem jähzornig eifersüchtigen Elvino sind repariert. Finaler Arienjubel und Koloraturenregen, darauf fast immer Applaus-Ekstasen.
Der Plot wird oft geschmäht. Aber Bellinis zukunftsweisende Partitur mit konsequent durchgehaltener Großflächen-Lyrik als Alternative zu virtuosen Stimmmarathons ist ein wesentlicher Schritt der italienischen Oper in die Zukunft. Auf den ersten Blick verfuhr Bellini wie ein romantischer Maler, der karge Landschaft mit mediterranem Goldlicht flutet – sozusagen ein Pasolini-Sujet mit Visconti-Opulenz. Aber im Grunde geht es um bereits 1830 rückständigen Aberglauben, Fremdenfeindlichkeit, soziale Kontrolle – aber auch um Wertestabilität und Solidarität. In der neuen Erler „Sonnambula“ entfällt der große Chor, mit dem die Schweizer Dorfgemeinschaft nach der Ausgrenzung Aminas mit dieser Mitleid empfindet. Das wäre – wie Programmheft-Autor Rainer Lepuschitz klarstellt – auch am Festspielstandort Erl beim Wilden Kaiser, der Festung Kufstein und am gutbürgerlichen Gasthof Blaue Quelle möglich.
Mit dem also auf Stichworte, Klangkulisse und Bellinis hübsche Schauerballade fokussierten Chor (ganz hohe Grundqualität durch Olga Yanum) und dem zwei Premieren in Folge leistenden Orchester der Tiroler Festspiele federt der geniale Dirigent Giacomo Sagripanti diese minimale Konzeptscharte ab. Ohne Edeldamast in kratzendes Polyester zu verwandeln, setzt Sagripanti in Bellinis melodischem Daueredelstoff dramatische, räumliche und koloristische Akzente. Den Solisten ermöglicht Sagripanti durchweg Höchstleistungen. PaweÅ‚ Horodyski singt einen sympathisch pointierten Alessio, Valentina Pernozzoli eine prachtvoll jugendliche Müllerin Teresa. Beiden sollte man recht schnell in größeren Aufgaben begegnen. Sarah Dufresne gibt eine formvollendete Primadonna Nummer Zwei, durfte aber Lisas Eifersuchts- und Intriganz-Gen nicht hinreichend ausagieren. Damit entfällt die wesentliche Kontrastfarbe des Werks und Pratt hat automatisch noch mehr Führungsfläche. Adolfo Corrado, der als einziger des Erler Winterensembles in „La sonnambula“ und „Lucia“ auftritt, durfte leider nur eine Strophe seiner Cabaletta singen. Der südafrikanische Tenor Levy Sekgapane verwandelt als Elvino toxischen Biedermeier-Bullshit in Belcanto-Gold auf Höhe der Zeit. Es fällt schwer, ihm keine feine und deshalb bestens dienliche Ironie zu unterstellen.
Eine ehrliche und echte Primadonna ist Jessica Pratt durch Können und Ausstrahlung. Leichthin legte sie die komplexe „Sonnambula“ ohne Pause zwischen zwei Termine als hochsportliche Königin der Nacht im Nationaltheater München. Als Amina agiert Pratt wie Maria Callas vor 70 Jahren an der Mailänder Scala. Da wollte Luchino Visconti, dass die Assoluta zum finalen Showdown ihre eigenen Brillanten anlegt, da sie „auch als Landmädchen immer La Callas ist“. Selbstreferentiell zeigt Jessica Pratt Vorliebe für Exklusiv- und Glanz-Couturen wie früher ihre legendär in Smaragdgrün auftretende Kollegin Joan Sutherland. Zur Verlobung erscheint Pratt in einem Textiltraum aus Schneeweiß, Prinzessinnen-Pink und silbernen Pailletten, nach der Pause in eher schlichtem und deshalb noch romantischerem Königinnenblau. Ihren textilen Spitzentanz begleitet auf allerhöchstem Niveau das Wunder der performativen Intensität. Bei Pratt werden alle Verzierungen zu hochkarätiger Meisterinnenarbeit, an Aminas emotionalen Krisenpunkten auch zu Phrasierungen mit intensiver Verinnerlichung. Pratt gestaltet in homogener Bestkondition.
Jessica Pratt und Levy Sekgapane sprangen dank des zaubernden Castingbüros letztes Jahr in letzter Sekunde für die noch schwereren „Puritani“ Bellinis ein. Jetzt sind sie wieder da und kommen hoffentlich bald wieder. Nach jeder Szene und am Schluss dieser „Sonnmabula“ jubelte das Publikum frenetisch wie an der Innsbrucker Sprungschanze.
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