Johannes Kalitzke: „Zeitkapsel“ (2022/23) & Luc Ferrari „Histoire du Plaisir et de la Désolation“ (1981) / Auch Milica Djordjevic sorgt seit geraumer Zeit mit Orchesterpartituren für Aufmerksamkeit / Gleich drei Auftragswerke der musica viva beinhaltet das Portrait von Nicolaus Brass

Johannes Kalitzke hat mit „Zeitkapsel“ (2022/23) / „Histoire du Plaisir et de la Désolation“ (1981) von Luc Ferrari
Tanz auf dem Vulkan
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Kompositionen im Dunstkreis der Katastrophe haben momentan Hochkonjunktur. Kein Wunder im Angesicht der krisengeschüttelten Weltlage. Die jüngste Ausgabe der musica viva-Reihe verkörpert in dieser Hinsicht gleichsam ein dystopisches Diptychon: Johannes Kalitzke hat mit „Zeitkapsel“ (2022/23) einen „Totentanz für großes Orchester“ geschrieben. Das beginnt mit düsterem Trommelschlag und schrillen Bläsersätzen und es dauert nicht lange bis krasse Klangmassierungen von Schlagzeug und Blech das Jüngste Gericht ausrufen. Das Besondere an Kalitzkes orchestralem Tanz auf dem Vulkan ist aber die geglückte Einschmelzung elektronischer Intarsien: interkulturelle Fundstücke wie mittelalterliche Lautenmusik, lädierte Stimmen von Phonografenwalzen, der Gesang eines Muezzins oder das Kinderlied „Au Claire de la Lune“ vermischen sich mit der brutalen Orchesterszenerie. Der expressiven Dramatik von „Zeitkapsel“ steht „Histoire du Plaisir et de la Désolation“ (1981) von Luc Ferrari in nichts nach, diesmal mit Kalitzke am Pult. Ein erstaunliches Stück, ist Ferrari doch eher als Ikone elektronischer Musik ein Begriff. Die Titel der drei Sätze sprechen Bände: „Harmonie du Diable“ – „Plaisir-Désir“ – „Ronde de la Désolation“. Ferraris „Vanitas-Visionen“ ziehen in der Dialektik von Ekstase und Vergänglichkeit alle orchestralen Register, inklusive ekstatischer Trommel-Partien. (BR musica viva #46)

Johannes Kalitzke hat mit „Zeitkapsel“ (2022/23) / „Histoire du Plaisir et de la Désolation“ (1981) von Luc Ferrari
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Auch Milica Djordjevic sorgt seit geraumer Zeit mit Orchesterpartituren für Aufmerksamkeit, die von existentiellen Extremsituationen bewegt werden. „Quicksilver“ (2016) startet mit schlieriger Mikropolyphonie und steigert sich mit kantigen Blechbläserpartien und gleißenden Glissandofeldern in gewaltige Tutti-Pulsierungen hinein. „Cvor“ (2021) für Bläser, Klavier und Schlagzeug ist in der subjektiven Reflexion der Erfahrung von Schwangerschaft und Geburt eine immens körperliche Musik, die mit düster-schrundiger Farbgebung einen Zustand permanenten Drucks aufbaut, bis der Knoten („Cvor“) mit einem Maximum an Expressivität platzt. Eine Adaption des Versepos „Mit o ptici“ (Vogelmythos) des Dichters Miroslav Antic ist das gleichnamige ‚Oratorium‘ für Chor und Orchester. Der Chor des Bayerischen Rundfunks entwickelt in in den wechselnden emotionalen Befindlichkeiten dieser Künstler-Parabel ganz starke Präsenz. Auch hier führt die raue Klangwelt Djordjevics in Sphären der Entsicherung und Hysterie hinein. (BR musica viva #44)
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Gleich drei Auftragswerke der musica viva beinhaltet das Portrait von Nicolaus Brass. Tabea Zimmermann spielt ein eindrucksvolles Bratschenkonzert namens „In der Farbe von Erde“ (2021): eine tastende Klangsuche, die sich allmählich zur expressiven Elegie entwickelt, aber nie zu dick aufträgt. Besonders interessant ist hier die Verschmelzung des Soloparts mit einem Apparat aus 44 Streichern, die in diversen Klanggruppen mikrotonal umgestimmt sind. Seltsam überspannt hingegen tritt „Der goldene Steig“ (2016) auf den Plan. Die Adaption eines Romanfragments von Peter Kurzeck für Sopran und Orchester transformiert die Erinnerung an den Vater in ein exzentrisches Melodram, wo eine hochdramatische, manchmal hysterische Gesangspartie mit der Melancholie introspektiver Reflexion nur schwer zusammenfinden will. Vielschichtig und ungreifbar erweist sich Brass’ Einsatz der Stimme in „Der Garten“ (2012) für Orchester mit vier obligaten Männerstimmen. Eine textlose Reflexion über die Auferstehung, wo die Neuen Vocalsolisten Stuttgart zwischen expressiver Klage und mystischem Irisieren mikrotonaler Vokalisen eindringliche Klangräume mit dem Orchester aufmachen. (BR musica viva #45)
Die CDs der Münchener musica viva dokumentieren handverlesene Orchester-Kompositionen in hochwertigen Live-Mitschnitten der gleichnamigen Konzertreihe. Hervorzuheben bei allen Produktionen ist der hohe qualitative Anspruch des Booklets (profunde Werkeinführungen, vollständiger Abdruck der Texte von Vokalwerken etc.). Heutzutage leider alles andere als eine Selbstverständlichkeit.
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