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Perspektivwechsel einleiten

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Über die Kunst, den scheinbar bekannten Planeten „Schule“ neu zu entdecken
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Der „Schulmusiker ist für mich kein Musiker, das ist ein Lehrer mit Fach Musik. Er muß versuchen, eine Musik zu vereinfachen, so daß es jemand, der von nichts Ahnung hat, kapiert. Dabei geht an der Musik so viel kaputt. Wenn wir in der Schule eine Mahler-Symphonie durchgenommen haben, die ich kurz vorher im Orchester gespielt habe, hat mir das fast wehgetan. Musiklehrer [sein] ist eben eine frustrierende Sache, für den Lehrer selbst und für die Schüler“ (Bastian 1987, S. 737).

Mit der royalen Mentalität dieses musizierenden Mahlerjüngers wirkt solch eine Demontage des Musikunterrichts wie ein Meteoriteneinschlag, verschiedene Welten prallen hier im Klassenzimmer aufeinander. Das Bescheidwisser-Gen steckt nicht nur in dem jungen Menschen, der mit einer unantastbaren Deutungshoheit und gerümpfter Nase die pädagogischen Bemühungen seines Musiklehrers kritisiert, kommentiert und daher den Planeten Schule schnellstmöglich verlassen möchte, um ihn dann nie wieder betreten zu müssen. Mahlers Musik „weltet“, ließe sich in Anlehnung an eine Wortschöpfung Heideggers anführen, Sein Anspruch war kein geringerer, als eine Musik zu komponieren, in der sich das ganze Universum spiegelt.

Die Bewohner des hier beschriebenen Musikunterrichts und unserer heutigen Oberstufenmetropolen scheinen sich in dieser Welt nicht ohne weiteres wiederzufinden. Nun ist der angeführte Kommentar zugegebener Weise in die Jahre gekommen, aber die Selbstreferentialität der Schule sorgt dafür, dass auch heute noch solch ein Dogmatismus beschämender Vereinfachungsanalysen und zelebrierter Deutungshoheiten praktiziert wird, mit dem schulmusikalische Hobbyastronomen Mahlers Welt auf eine für Schulmusikunterricht handhabbare Parameteranalyse reduzieren. Und bei all dem sind jene Schülerinnen und Schüler, die die Betonschwellen zum Oberstufenunterricht erst gar nicht überwinden wollten, noch nicht einmal in den Blick genommen. Eine sich hier anschließende und immer rechtfertigende Basta-Debatte erstickt dann in der sich immer wiederholenden Erkenntnis, die Vorgaben für das Zentralabitur seien bereits vor dem ambitionierten Wirken Gustav Mahlers auf die Welt gekommen und als Stimme Gottes mit musikpädagogischem Exodus auf steinernen Gesetzestafeln auf dem Berg Sinai übergeben worden.

Jeder erhobene Finger, der die Mängel an Lehramtsstudierenden anprangert, sollte also zunächst einmal auf den Musikunterricht selbst zeigen und den Planet Schule in den Blick nehmen: Wenn Musikunterricht marginalisiert wird und aus den hier bereits abzulesenden Gründen in der Oberstufe nur noch vor handverlesenen Fangemeinden oder in musikpraktischen Kursen stattfindet, liegt das oft auch am praktizierten Musikunterricht selbst.

Unsere Vorhaltungen richten sich gerne an die Musikhochschulen, um ihnen vorzuwerfen, sie sollten weniger Rennpferde für Tastenwettkämpfe trainieren und ihrer gesellschaftlichen Verantwortung nachkommen. Es wäre einmal ein erster Schritt, wenn die zur Verfügung stehenden Studienplätze auch besetzt werden könnten. Welche Anstrengungen werden an den einzelnen Häusern unternommen, um junge Menschen für das Lehramtsstudium zu begeistern? Es gibt Musikhochschulen, an denen mehr Studienplätze zur Verfügung gestellt werden, als Studienbewerber zur Eignungsprüfung erscheinen. Das gilt für das nun laufende Wintersemester und liegt an einer von uns selbst zu verantwortenden „Pandemie“ (griech.: pandēmía). Die angedeuteten Vorstellungen von Musik und Musikunterricht sind schließlich (und gemäß des altgriechischen Leumunds) „im ganzen Volk verbreitet“. (Auch diese Pandemie besiegt man nur global.) Für das gymnasiale Lehramt sind hier noch vergleichsweise beruhigende Inzidenzen zu beobachten, in den anderen Schulformen sieht dies, wie wir alle wissen, noch ganz anders aus.

Auch hier ist ein Perspektivwechsel nötig: Die eigenen Grundschulerfahrungen liegen weit zurück, zudem müssen nun Schulformen in den Blick genommen werden, die oft abseits der eigenen Lernbiographien liegen. Um solch einen Perspektivwechsel zu unterstützen, dürfen sich gerade jene angesprochen fühlen, die musikalische Bildungsprozesse besonders intensiv begleiten: Gemeint sind hier die Instrumentallehrer, Kirchenmusikerinnen, Protagonisten der sogenannten Amateurmusik. Selbst Lehrbeauftragte an Universitäten und Musikhochschulen wissen oft wenig von dem, was ihre Schülerinnen und Schüler in den Lehramtsstudiengängen zu erwarten haben. Sie kennen weder die sehr unterschiedlichen Anforderungen der Eignungsprüfungen noch die weiteren oft sehr spezifischen Zugangsvoraussetzungen. Auch sind die wenigsten darüber informiert, an welchen Institutionen sich die Lehrämter in den verschiedenen Bundesländern studieren lassen: Das gymnasiale Lehramt wird immer noch einseitig an Musikhochschulen verortet, von den höchst unterschiedlichen und individuellen Ausformungen der anderen Lehrämter wissen nur wenige. Und die Attraktivitäten der späteren Berufswirklichkeiten sind jenen verstellt, die sich selbst einmal ganz bewusst gegen ein solches Studium und gegen eine berufliche Zukunft in der Schule entschieden haben.

Wie Mahler seine Zeit philosophisch und musikalisch vollendet, hält für jeden eine Botschaft bereit. Hier wird ein Kosmos hörbar, in dem sich jeder junge Mensch mit seinen Fragen einbringen kann, um sich mit seinen individuellen Mitteln auf die Suche nach dem zu machen, worum es im Leben geht. Dies ist nicht mit dem eingangs angesprochenen Prozess des Vereinfachens verbunden, sondern es erfordert den Blick auf das Ganze und „Elementare“, auf jenes, was unsere Welt und die musikalische Welt Gustav Mahlers im Innersten zusammenhält.

Es soll uns nun nicht darum gehen, ein Fin de Siècle ohne Musiklehrer einzuläuten. Ist es doch ein großes Geschenk, als Musiklehrerin planetarisch zu werden, solch ein Fragen zu begleiten und an der Mondialisierung unserer jungen Menschen teilzuhaben. Für dieses „allgemein Bildende“ braucht es weder einen Quintenzirkel noch die schulmusikalische Weltenge aufgezwungener Musiziermaßnahmen mit bunten infantilen Plastikrohren und Bodypercussion. Sie werden zur Karikatur, mit der sich keine geistige Beziehung zwischen dem Menschen und der Musik aufbaut.

In jeder Auseinandersetzung mit Musik wird uns deutlich: Wir finden die Welt und unser Leben nicht schon fertig vor. Unsere besondere menschliche Situation besteht darin, dass wir uns die Welt erst erschließen und uns selbst finden und verwirklichen müssen. Solche Momente der Selbstgestaltung finden junge Menschen zum Beispiel in den Musikmentoren-Programmen, die in vielen Bundesländern aufgelegt sind.

Dieses Personalentwicklungsinstrument kann einen Perspektivwechsel in die Lehrerrolle einleiten und zugleich dazu anregen, andere Planeten außerhalb des eigenen Schulkosmos zu entdecken, auf denen es sich „lebenslang“ zu verorten gilt. Wenn uns dies gelingen kann, dann sind Musiklehrer nicht der Welt abhanden gekommen, sondern singen ein besonderes Lied von der Erde. Wenn uns dies gelingen kann, dann nehmen Musiklehrer den Platz ein, der ihnen in und außerhalb der Schule zusteht, dann werden sie zum Kulturagenten.

  • Bastian, Hans Günter (1987): Schulmusiker werden? – nein danke! Ein Berufsbild in der kritischen Bewertung instrumentaler Talente. In: Musik & Bildung H. 10, S. 735–741.
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