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Vom Tanz der Derwische inspiriert: Paul Gigers „Pert Em Hru“, choreographiert von Marco Santi bei den St. Galler Festspielen. Foto: Toni Suter/T+T Fotografie
Vom Tanz der Derwische inspiriert: Paul Gigers „Pert Em Hru“, choreographiert von Marco Santi bei den St. Galler Festspielen. Foto: Toni Suter/T+T Fotografie
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Archaische Begegnungen von Orient und Okzident: Paul Gigers „Pert Em Hru“, neu vertanzt bei den St. Galler Festspielen

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Raum, Klang, das Phänomen der Obertöne und eine Affinität zu „geistigen Welten“ und „seelischen Universen“ kennzeichnen das Schaffen des Schweizer Komponisten Paul Giger. Schon einmal, im Jahr 1988, konnte man ihn erleben, wie er eine Kathedrale mit den oszillierenden Obertonklängen seiner Geige erfüllte. Das war in Chartres, und 2007 folgte mit dem Stück „Pert Em Hru“ dann eine weitere Klangerkundung für die Kathedrale von St. Gallen. Wieder lotete Giger alle Facetten seines Instrumentes mit stupender technischer Brillanz aus, frappierte mit geschwinden Arpeggien, kreisenden Ostinatofiguren, in sich ruhenden und zugleich weit ausschwingenden Melodiebögen, mit wispernden höchsten Soprantönen und ätherischen Flageolettklängen, berückenden Harmonien und Mikrotönen - vor allem aber mit einer tiefen Innigkeit seines Spiels und einer wundersam berührenden Stille.

Nun konnte man dem für die Kathedrale von St. Gallen komponierten „Pert Em Hru“ und seiner spirituellen Klangwelt im Rahmen der St. Galler Festspiele wiederbegegnen, diesmal einfühlsam erweitert um die Dimension des Tanzes durch den Choreographen Marco Santi und seine St. Galler Tanzkompagnie. Drei Kompositionen Paul Gigers waren hierfür unter einen großen Bogen gespannt worden, in denen die zentralen Themen menschlichen Daseins behandelt sind: Geburt, Individuation als Finden zu Gott, und Sterben. „Karma Shadub“, das im Tibetischen „tanzender Stern“ bedeutet, entstand in einer ersten Fassung schon 1984 zur Geburt von Gigers Sohn Ramón. „Tropus“ bringt als Zitat die mittelalterliche Melodie „Omnipotens Genitor“, in der der 913 verstorbene St. Galler Mönch Tuotilo seinen Gott lobpreist. Und das abschließende ausgedehnteste Werk, „Pert Em Hru“ nach dem Ägyptischen Totenbuch – „Vom Heraustreten der Seele ins helle Tageslicht“ -, verbindet lateinische Chorgesänge und ägyptische Totentexte.

In der barocken Pracht der Kathedrale St. Gallen begann im Dämmerlicht um neun Uhr abends ein denkwürdiges, athmosphärisch dichtes Konzert, das gut 80 Minuten später im Dunkel endete und neben der 13-köpfigen Tanzkompagnie des Theaters St. Gallen auch die zwei St. Galler Chöre „collegium vocale“ und „Tablater Konzertchor“ (Leitung: Hans Eberhard), den vom Hilliard-Ensemble bekannten David James (Altus) und außerdem Pudi Lehmann (Gong), Marie-Louise Dähler (Cembalo), Norbert Schmuck (Orgel) sowie den Komponisten selbst auf Violine und Violino d’amore mit einband. Vom heiligen Tanz der türkischen Derwische inspiriert begann der erste Teil – stetes Drehen um die eigene Achse, um so in ekstatischer Trance Gott näher zu kommen. Abgewandelt um winzige Details und Gesten, so dass die Tänzerinnen und Tänzer in ihren weit ausschwingenden schwarzen langen plissierten Röcken (Kostüme: Marion Steiner) eine sogartige Intensität erzeugten, zu der Gigers umherwandernde Violinklänge und die in geheimnisvolles Dunkel getauchten, dann wieder im Lichtstrahl präsenten Chöre wunderbar korrespondierten.

Gong und Stille und ein wie geklöppelt wirkendes Spiel auf Cembalo und Violine bestimmten den „Tropus“-Teil, starke ruhige Bilder fand Santi hierzu für seine Tänzer mit ungewöhnlichen Hebefiguren für die Tänzerinnen, die ihre männlichen Kollegen mit scheinbarer Schwerelosigkeit stemmten, und mit Anklängen an Pietà-Darstellungen. In den weißen Kostümen der Tänzer, die prozessionsartig die Länge des Kirchenschiffes von hinten nach vorne zum Chorraum durchschritten, erstrahlte im Schlußteil förmlich die Grundaussage des ägyptischen Totenbuchs: die Vorstellung eines lichten Daseins nach dem Tod anstelle von Dunkel und Finsternis. Auch der Chor durchmaß singend und schreitend die gewaltigen Klangdistanzen der St. Galler Kathedrale, dem Altus David James seine um Vierteltöne wie in den ägyptischen maquamat-Skalen angereicherten ägyptischen Totentexte entgegensetzte.

Bewegung und Klang, Ritual, Tanz und spirituelle Momente begegneten sich in dieser Kathedral-Aufführung. So ließe sich Paul Gigers Credo - „Musik ist die irdische Spiegelung geistiger Welten“ - nach diesem bewegenden Konzertereignis noch ergänzen: „Musik und Tanz sind die irdische Spiegelung geistiger Welten“.

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