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Brahms‘ „Deutsches Requiem“ als „Human Requiem“ mit dem Rundfunkchor Berlin. Probenfoto: Sebastian Bolesch
Brahms‘ „Deutsches Requiem“ als „Human Requiem“ mit dem Rundfunkchor Berlin. Probenfoto: Sebastian Bolesch
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Den Menschen an Stelle des „Deutschen“ setzen: Brahms’ „Human Requiem“, szenisch aufgeführt im Radialsystem Berlin

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Jochen Sandig, im Hauptberuf Leiter des Berliner Radialsystems, hat zusammen mit dem Rundfunkchor Berlin ein grandioses Brahms-Requiem in Szene gesetzt, das auf vielfache Art bewegt: Mitwirkende und Zuhörende werden in seiner Konzertinszenierung zu einer unteilbaren Gemeinschaft.

Der große Saal des Berliner Radialsystems ist beinahe leer. Nur ein paar kleine Emporen sind an den Wänden untergebracht, der Flügel – denn es wird die Requiem-Version mit Klavierbegleitung gegeben – steht irgendwo in einer Ecke. Der Bestuhlung hat man sich entledigt. Die Konzertbesucher müssen, bevor der Saal betreten werden darf, im Foyer ihre Winterjacken selbsttätig an Bindfäden aufhängen und sich ihr Straßenschuhwerk ausziehen, um in grob zusammengefädelte Überzieher aus Sackleinen zu schlüpfen.

Bereits die einheitliche Fußbekleidung schafft eine gewisse Verbundenheit und ist, wie man etwas später erkennt, das einzige Unterscheidungsmerkmal zwischen jenen, die sehr gut singen können, und uns anderen. Denn diejenigen, die auf Fußsäckchen verzichten und statt dessen in Ringelsocken, Strumpfhosen oder gar barfüßig einherschreiten, sind die Sängerinnen und Sänger des Rundfunkchors Berlin. Der Chor hat das Requiem unzählige Male aufgeführt, auch schon einen Grammy dafür bekommen, und kann seinen Brahms natürlich im Schlaf. Selbstverständlich wird das Werk auswendig gesungen, und das ist an diesem Abend auch nötig. Jochen Sandig, Chef des Radialsystems, hat in Zusammenarbeit mit einem Team der Company Sasha Waltz & Guests das Werk seines üblichen Konzertambientes beraubt und es mitten unter uns gesetzt. Zu diesem Konzept gehört auch, dass man aus „Ein Deutsches Requiem“ (wie der Protestant Brahms sein Werk programmatisch im Unterschied zur lateinischen Totenmesse nannte) im Titel das international deutlich klangvollere „Human Requiem“ gemacht hat. Dabei beruft man sich auf Brahms selbst, der in einem Brief äußerte:„Was den Text betrifft, will ich bekennen, dass ich recht gern das ‚Deutsch‘ fortließe und einfach den ‚Menschen‘ setzte.“

Es ist ein unglaublicher Moment, als aus unserer Mitte heraus, von überall im Raum her, der Gesang aufsteigt. „Selig sind, die da Leid tragen“, singen jene, die wir sonst aus einiger Entfernung als monolithischen Klangkörper wahrzunehmen gewohnt sind. Heute aber ist überall Gesang, denn die Singenden bewegen sich mitten unter uns, jeder und jede einzelne als wahrnehmbare Einzelstimme und -person durch den Raum gehend. Auch die wunderbar disponierten Solisten Marlis Petersen und Konrad Jarnot beginnen ihre Soli inmitten des Publikums, als seien sie selbst ein Teil des Chores. Dass der Chor selbst trotz der räumlichen Verteilung immer noch perfekt als ein einziger Klangkörper fungiert, hat etwas Mystisches. Denn zwar steht Simon Halsey (und bei zahlreichen Gelegenheiten ein Co-Dirigent, der im Programmheft ungenannt bleibt) leicht erhöht und so zentral, dass sein Dirigat von jeder Stelle im Raum aus gut gesehen werden kann. Doch kann man als Sänger die meiste Zeit den Dirigenten eben nicht im Auge behalten, während man sich im Raum bewegt, auch mal auf dem Boden kauert oder gar auf einer schwingenden Schaukel sitzt.

Ein wunderbarer Szeneneinfall ist das übrigens, für „Wie lieblich sind deine Wohnungen, Herr Zebaoth“ zwei große Kreise aus Schaukeln für die Chorsänger zu eröffnen, deren Seile von ganz oben aus der Decke der Halle kommen und die mithin deutlich über zehn Meter lang sein müssen. Es sind durchgehend einfache, eindeutige szenische Setzungen, die Sandig für die einzelnen Stücke vornimmt, einfach, doch niemals banal. Und manchmal muss man auch besonderen Erfordernissen der Musik Rechnung tragen. Die Fugen, die Brahms in sein Requiem hineinkomponierte, können schwerlich beim entspannten Schaukeln gesungen werden; hier zwingt der Komponist die Inszenierung zum Innehalten und die Sänger zum Verharren auf einem Platz, von dem aus der stete Blickkontakt zum Dirigenten gewährleistet bleibt.

Auch so bleibt es ein Abenteuer. Mit einem Chor, der auch nur ein kleines bisschen weniger großartig wäre, wäre eine Produktion wie diese nicht zu machen. Es bedarf keiner prophetischen Gabe, um vorherzusagen, dass „Human Requiem“ auch der Höhepunkt des Chorfestivals chor@berlin sein wird, das vom 16. bis zum 19.2. im Radialsystem stattfindet.

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