Hauptbild
Christine Fischer (2006). Foto: Hufner
Christine Fischer (2006). Foto: Hufner
Hauptrubrik
Banner Full-Size

Dynamik, Ästhetik, Energie – Andreas Kolb im Gespräch mit Christine Fischer über das Stuttgarter Festival ECLAT

Autor
Publikationsdatum
Body

Die erste Ausgabe des Stuttgarter Festivals Eclat (6. bis 9.2.2014) unter der gemeinsamen künstlerischen Leitung von Christine Fischer und Björn Gottstein will unterschiedliche Kulturen und Lebensbedingungen in einen musikalischen Zusammenhang stellen. Gespielt werden Werke von Salvatore Sciarrino, Brian Ferneyhough, Nikolaus Brass, Christoph Ogiermann, Martin Schüttler, Enno Poppe, Annesley Black, Boris Baltschun und anderen. Insgesamt soll es 24 Uraufführungen geben. Andreas Kolb unterhielt sich für die neue musikzeitung mit Christine Fischer über das aktuelle Festivalprogramm.

neue musikzeitung: ECLAT 2014 findet unter neuer künstlerischer Leitung statt: Christine Fischer und Björn Gottstein agieren als „Doppelspitze“. Wie sieht die Aufgabenverteilung aus?

Christine Fischer: Wir verantworten gemeinsam das Festivalprogramm. Insofern gibt es im Blick auf die künstlerische Planung keine Aufgabenteilung, sondern einen intensiven Dialog, der sich über Monate erstreckt. Natürlich gibt es administrativ völlig unterschiedliche Aufgaben – Björn als Redakteur für Neue Musik beim SWR in Stuttgart ist für die Koordination der „SWR attacca in ECLAT Konzerte“ verantwortlich und ich als Intendantin von Musik der Jahrhunderte für das Team, die öffentliche Präsenz und die Verortung des Festivals im Kontext der Aufgaben unseres Hauses. Björn als Musikwissenschaftler wiederum wird sehr viel mehr zum Programmbuch beitragen, ich als Managerin bin für die Logistik und den Etat zuständig.

nmz: Welche Pläne verfolgt ihr mittel- und langfristig?

Fischer: ECLAT ist DAS jährliche Festivalereignis Neuer Musik für die Kulturstadt Stuttgart. Insofern ist es wichtig, ein möglichst breites Bild dessen, was an relevanten Strömungen in der Welt der Neuen Musik existiert, zu vermitteln. Natürlich ist es Björns und mein Blickwinkel von „Relevanz“! Wichtig ist uns beiden der Anspruch, einen gesellschaftlichen und politischen Bezug herzustellen. Wir wollen vor allem einer jüngeren und experimentellen Komponistengeneration Raum geben und Komponisten auch aus anderen Ländern und Kulturen einladen. Interdisziplinäre Projekte werden eine große Rolle spielen. Björns besonderes Interesse gilt der elektronischen Musik, meines dem Musiktheater. Diesem allem wird Raum gegeben. Stets präsent sind natürlich die Ensembles der beiden kooperierenden Institutionen: die beiden Klangkörper des Kooperationspartners – Radiosinfonieorchester Stuttgart des SWR und SWR Vokalensemble Stuttgart – sowie die Neuen Vocalsolisten als Ensemble der das Festival ausrichtenden Institution Musik der Jahrhunderte.

nmz: Konnte an das Budget der vergangenen Jahre angeknüpft werden? Wird geschrumpft oder gewachsen?  Wie hoch ist die Zahl der Uraufführungen?

Fischer: Der Etat hat sich nicht verändert und ist leider sehr „low budget“. Erhöhen kann er sich nur durch Sonderprojekte, durch die wir Stiftungen für die Förderung gewinnen können, und durch Kooperationen. Das ist in diesem und wird in den kommenden Jahren auch prägend sein.

In diesem Jahr haben wir in sieben Veranstaltungen 24 Uraufführungen – eine hohe Zahl, weil allein im Projekt „Mediterranean Voices“ 12 a-cappella-Werke uraufgeführt werden.

nmz: Beschreibe bitte das Konzept 2014. Was erwartet uns bei der nächsten Ausgabe von ECLAT vom 6. bis 9.2.2014? (beispielhaft an 2 oder 3 Konzerten)

Fischer: Mit der Podiumsdiskussion „Neue Musik und die Diversität der Gesellschaft“ setzen wir dem Festivalprogramm einen Rahmen. Ein besonderer Schwerpunkt liegt auf Themen des Mittelmeerraums – wir eröffnen am Donnerstag mit Interzone von Enno Poppe und der Videokünstlerin Anne Quirynen über William S. Borroughs‘ existentiellen „Trip“ nach Tanger, „melting pot“ von Künstlern und Kulturen in den 50er Jahren. Und wir beschließen das Festival am Sonntag mit der „Video-Konzert-Architektur“ Mediterranean Voices, die Konzert und Videoinstallation vereint und für die man sich einen halben Tag Zeit nehmen sollte. Die fragilen Identitäten des Mittelmeerraumes stehen im Zentrum dieses Projektes, für das zwölf Komponisten von Marokko bis Syrien und von Spanien bis Ägypten Werke vokaler Kammermusik komponiert haben und Daniel Kötter ein vielschichtiges und -teiliges Video-Dokument über die zwölf Herkunftsländer geschaffen hat. Werke von Salvatore Sciarrino und José-María Sánchez-Verdú im Chor- und im Orchesterkonzert am Freitag und Samstag ergänzen diesen Themenkomplex. Mit einem sehr diesseitigen Blick auf die Gesellschaft setzen in den gleichen Konzerten Martin Schüttler, Christoph Ogiermann, Hannes Seidl und auch Nikolaus Brass sehr kontrastreiche Akzente. Zwei Klavierwerke von Brian Ferneyhough und Annesley Black werden von Nicolas Hodges uraufgeführt und zwei Ensemblekonzerte mit ascolta und dem Ensemble Recherche präsentieren unter anderem die jungen polnischen Komponistinnen Joanna Wozny und Jagoda Szmytka. Im Preisträgerkonzert zum Stuttgarter Kompositionspreis werden Christian Billian und Peter Gahn geehrt, der mit seiner „Nachtsicht“ wiederum einen sehr intimen und stillen Gegenentwurf zur aufgeladenen Mittelmeerwelt zeichnet. Mit einer nächtlichen Performance wartet schließlich an zwei Abenden Boris Baltschun inmitten seiner elektronischen Installation auf. Es sind krasse Gegensätze in diesen vier kurzen Tagen zu erleben im Blick auf Dynamik, Ästhetik und Energie  – zwischen Soloinstrument und Musiktheater und zwischen kurzer Performance und der alle Säle bespielenden Konzert-Installation. Aber es ist ein in sich stimmiges, rundes und sehr spannendes Festivalprogramm, auf das wir beide, Björn und ich, uns sehr freuen.

nmz: Zum ECLAT-Publikum: Seit vielen Jahren wird durch ECLAT und „Musik der Jahrhunderte“ (MdJ) intensive Neue-Musik-Vermittlung betrieben. Wie sieht der Besucher-Mix aus regionalem und überregionalem Fachpublikum zurzeit aus? Wie läuft der Vorverkauf?

Fischer: Wir haben ein wunderbares, urbanes, aufgeschlossenes, „hungriges“ und auch sehr kritisches Publikum, das uns stets viel Feedback gibt. ECLAT ist eines der bedeutenden kulturellen Ereignisse der Stuttgarter Kultur-Saison und ragt daher in der öffentlichen Wahrnehmung auch weit über die andern Veranstaltungsformate von MdJ hinaus. Etwa 70% der Besucher kommen aus Stuttgart und der Region, 10% aus anderen Landesteilen und aus dem Ausland und etwa 20% ist Fachpublikum. Normalerweise haben wir eine Auslastung von über 90%. Allerdings glaube ich, dass unsere Vermittlungsprogramme Neuer Musik, innerhalb derer wir ja sehr viele unterschiedliche Formate entwickelt und durchgeführt und inzwischen auch das „Netzwerk Neue Musik Baden-Württemberg“ ins Leben gerufen haben, keinen bedeutenden Einfluss auf die Zuschauerzahl bei ECLAT haben. Denn von dem – durchaus wichtigen – Moment, wo jemand das Wesen der gegenwärtigen Kunst-Musik erahnt oder gar begreift und ihre Existenz als Teil der Kunstwelt wahrnimmt, bis zum Entschluss, die Welt der Neuen Musik auch in die eigene Lebens- oder zumindest Freizeitgestaltung aufzunehmen, ist es ein sehr, sehr großer Schritt.

nmz: Das Festival und das Neue-Musik-Jahr in Stuttgart: Wie strahlt das Festival in die Zeit zwischen zwei ECLAT Festivals aus?

Fischer: Je nach Lebenssituation gibt es sehr unterschiedliche Bedürfnisse: zum einen die kulturinteressierten Besucher, die sich aufgrund beruflicher Belastung einerseits und breiten Kulturinteresses andererseits zeitlich nur ein einziges intensives Neue Musik-Wochenende jährlich leisten und daher explizit zu ECLAT kommen, weil sie wissen, dass ihnen hier ein breites Abbild dessen geboten wird, was derzeit aktuell ist. Sie genießen dieses exklusive Wochenende sehr, und diese Freude, der Hunger nach neuem, ist auch prägend für das Klima bei unserem Festival. Ähnlich punktuell besuchen diese Menschen im Laufe eines Jahres auch Opernpremieren, Ausstellungen, Kulturstädte für Kurzurlaube, „wichtige“ Filme im Kino oder Spitzenrestaurants. Und dann gibt es ein Publikum, das vornehmlich an neuer Musik interessiert ist. Diese Menschen beschweren sich schon einmal persönlich bei mir, wenn wir nicht regelmäßig mit Konzertveranstaltungen in Stuttgart präsent sind. Daher haben wir vor einigen Jahren ein zweites Festival ins Leben gerufen, den „Sommer in Stuttgart“, inzwischen auch als „SIS“ bekannt, bei dem wir mit unterschiedlichen Stuttgarter Partnern zusammenarbeiten. Gründungsmitglied und regelmäßiger Kooperationspartner ist die Akademie Schloss Solitude. Der SWR ist nach einer Auszeit nun mit Björn Gottstein wieder dabei und in diesem Jahr zum ersten Mal auch die Stuttgarter Musikhochschule, mit der wir natürlich seit Jahrzehnten immer wieder gemeinsame Projekte entwickelt haben. Auch die Staatsoper, die in den ersten Jahren kooperiert hat, hoffen wir wieder für den „Sommer“ zu gewinnen. In Stuttgart gibt es eine wunderbare Zusammenarbeit der Kulturschaffenden, auch und insbesondere auf dem Gebiet der Neuen Musik – das schlägt sich auch in den Konzertformaten nieder. Zwischen diese beiden Festivalpole, ECLAT im Februar und Sommer in Stuttgart im Juni (4.-8.6.2014) setzen wir eine kleine Konzertreihe „Südseite nachts“, die experimentelle kammermusikalische Entwürfe ins Zentrum stellt und auch eine Plattform für die Neuen Vocalsolisten sein soll.

Das Gespräch führte Andreas Kolb

Weiterlesen mit nmz+

Sie haben bereits ein Online Abo? Hier einloggen.

 

Testen Sie das Digital Abo drei Monate lang für nur € 4,50

oder upgraden Sie Ihr bestehendes Print-Abo für nur € 10,00.

Ihr Account wird sofort freigeschaltet!