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Der Komponist Gordon Kampe. Foto: Hufner
Der Komponist Gordon Kampe. Foto: Hufner
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Ehre wem Ehre gebührt – sound surround-Urenkel treffen sound surround-Urväter beim Essener Festival „NOW!“

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Nennt sich ein Neue Musik-Festival „NOW!“ und setzt dahinter noch ein emphatisches Ausrufungszeichen, ist dies zunächst einmal eine klare Sache: Neueste Produktion, Gegenwärtigkeit – und zwar jetzt. Umso erstaunlicher, dass das junge Festival der Essener Philharmonie, hervorgegangen aus der Erbmasse des netzwerk neue musik, eben hier und jetzt zu einer Exkursion vom Hier und Jetzt ins Historische aufrief.

Was andererseits recht nahe lag, da Raumklang, das ostinate Thema dieser dritten „NOW!“-Ausgabe, ganz unweigerlich zu einem Eintauchen in den Klangraum der großen Kirchenmusik führt. Womit die Kuratoren um Günter Steinke von der Folkwang Universität der Künste in diesem Fall gar nicht einmal die musica enchiriadis, die mutmaßlich im Benediktinerkloster zu Essen-Werden verfasste älteste Musikhandschrift im Auge respektive Ohr hatten. Im Focus vielmehr der Ursprungsort einer konzertierenden Mehrchörigkeit, San Marco in Venedig.

Essen – Venedig

Insofern war der Wechsel von der Philharmonie an der Huyssenallee in die Hohe Domkirche im Zentrum der Stadt nur konsequent. Auch wenn das Essener Münster kaum an die Dimensionen des Markusdom heranreicht, etwa über keine bespielbaren Seitenemporen verfügt – als Kreationsort alter wie neuer Raumklangkompositionen konnte er sich doch hören lassen. Das Tableau mit Gregorio Allegris berühmter Sixtinischer Kapellen-Musik „Miserere“, mit Monteverdis „Gloria a 7“ sowie mit Psalmvertonungen von Giovanni Gabrieli und Heinrich Schütz imposant aufgespannt. Und mit Johann Rosenmüller Ensemble, Folkwang Vokalensemble und sechs exzellenten Solisten um Constanze Backes und Veronika Winter so hervorragend besetzt, dass die Alte Musik-Freunde der Stadt die Domkirche mühelos füllten.

So hätte eigentlich alles einen normalen Verlauf nehmen können – klangsinnliches Musikzieren, süße Kost für verführungsbereite Ohren – hätte die Konzert-Dramaturgie nicht in den Reigen einer traditionell-festlichen Kirchenmusik zwei aktuelle Proben auf das Festivalthema „sound surround“ integriert. Beide indes sehr unterschiedlich nach Machart und Anspruch.

Die „Intensities and interludes“ des schwedischen Computermusikers Erik Mikael Karlsson, Jahrgang 1967, reine Elektro-Akustik. Eine Lautsprechermusik, die den menschlichen Atem in vielfach veränderter Gestalt wiedergibt – gedehnt, gestaucht, in Zeitlupe. Insgesamt eine in technische Möglichkeiten verliebte Arbeit, die sich wie Theaternebel im Dominneren ausbreitete, allerdings kaum an die Grenzbereiche des Mediums rührte, Atemlosigkeit, Stillstand.

Grenzen zu tangieren, Grenzen zu überschreiten blieb dann der neuesten Arbeit des nordrhein-westfälischen Komponisten Gordon Kampe vorbehalten. Mit „Mondbeschreibungen“ als Auftragswerk der Philharmonie, folgte Kampe dabei ganz seiner Ästhetik einer latenten Aufwertung des Akzidentiellen. Kampe, ein Komponist mit Sinn für das umgekehrt Erhabene Jean Pauls treibt ein ausgeprägter Hang für das Beiläufige, für das Skurrile auch, gepaart mit der Lust, all dies in die Formenwelt der Kunstmusik hineinzunehmen, es jedenfalls nicht mit dem Vermerk „zu leicht befunden“ ausgeschlossen zu wissen. Dieser Linie folgte der Komponist auch im Fall seiner „Mondbeschreibungen“ für sechs Solostimmen, gemischten Chor, Ensemble, Zuspiel – unstrittig opulent angelegt und mit dem Prinzip der geteilten Chöre erkennbar verortet in der Tradition der Mehrchörigkeit San Marcos. Bereits die Aufstellung eine Verbeugung vor dieser Tradition: Folkwang Vokalensemble in den Seitengängen, Solisten plus Johann Rosenmüller Ensemble unter Jörg Breiding in der Vierung. Nur, was klingend folgte, ging in dieser tradierten Organisation des festlich arrangierten Kirchenkonzerts nicht mehr auf. Alles sah zwar so aus. Nur die Klanggestalt, die war anders, verfremdet.

Den Klangraum beschreiben

Dafür sorgte zunächst der Text. Kompilierte Statements von Johannes Kepler, Giacomo Leopardi und von Apollo 11-Astronaut Buzz Aldrin hatte Kampe den Sängern in einer Weise in die Partitur hineingeschrieben, dass reguläre Text-Verständlichkeit von vornherein ausgeschlossen war. „Vernuscheln“ war stellenweise explizit gefordert, womit die Message hier ganz automatisch ins Medium selber rutschte. Wer da gerade in allerbester Manier mit Schütz, Gabrieli, Allegri eingestimmt war, stand jetzt vor der Alternative, die kopernikanische Wende mitzumachen oder – auszusteigen. Zumal eigentlich Vertrautes wie konventionelle Bläser-Einwürfe ohne funktionierenden Oratorien-Hintergrund unvermutet in der Luft hingen.

Wohin die Umkehrung zielte, verriet eine ausgeklügelte Elektronik. In deren Zentrum Aufnahmen der Kathedral-Akustik, die Kampe seinerseits nutzte, um sie verwandelt unter das instrumental-vokale Klang-Geräuschband einzumischen, womit denn auch am Ende weniger ein Himmelskörper als die sehr irdische Essener Dom-Architektur klangbeschrieben war. – Im Programmheft ließ sich nachlesen, dass dies Giovanni Gabrieli und sein liebster Schüler Heinrich Schütz an San Marco auch schon so ähnlich gemacht hatten. Das kokett-doppeldeutig mit „Gloria“ überschriebene Domkonzert also Verbeugung vor den „Urvätern“ des sound surround. Ehre wem Ehre gebührt.

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