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„Carmen“ in Hagen: Carmen (Kristine Larissa Funkhauser, 3. von rechts) fühlt sich wohl in der anarchischen Bande, die draußen vor den Toren Sevillas lagert. Foto: Stefan Kühle
„Carmen“ in Hagen: Carmen (Kristine Larissa Funkhauser, 3. von rechts) fühlt sich wohl in der anarchischen Bande, die draußen vor den Toren Sevillas lagert. Foto: Stefan Kühle
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Gegen das Klischeee: „Carmen“ in der Regie Anthony Pilavachis am Theater Hagen

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Carmen einmal nicht als rassiger, gefühlsbetonter Vamp, einmal nicht mit rotem Schopf und Zigeuner-Outfit. Regisseur Anthony Pilavachi stellt sich mit seiner Inszenierung gegen das gängige Klischee. Natürlich weiß Carmen ihre Erotik einzusetzen, hier aber ganz rational und allein zur Durchsetzung ihrer Zwecke. So wickelt sie Don José um den Finger, damit er ihr das Gefängnis aufschließt, in dem sie nach der Attacke gegen eine Arbeitskollegin aus der Zigarettenfabrik gelandet ist.

Kühle Beherrschung prägt wenig später Carmens Auftritt als Table-Dancerin im Bordell des Lillas Pastia. Dort fliegen ihr die Geldscheine nur so zu. Dann aber kommt die Wende: Als der ebenso selbstsichere wie charismatische Don Escamillo auftaucht, spürt Carmen, dass da ein ihr Ebenbürtiger die Szene betritt. Und fortan ist sie fähig zur Liebe und Selbstaufgabe.

In diesem zweiten Akt von Georges Bizets Erfolgsoper liegt der Schlüssel zu Anthony Pilavachis Regiearbeit. Wie er Carmens Verwandlung in einen liebenden Menschen schildert, ist ebenso einfühlsam wie grandios. Carmens kurzer Blick zu Escamillo, wie er seine Autogrammkarten unters Volk bringt, ihr leichtes Staunen über sich selbst, ihr Achselzucken und ihr sofortiges Einstimmen in den Lobgesang auf den Stierkämpfer – ein so fein gezeichnetes Psychogramm der Carmen in diesem und noch so vielen anderen Momenten ist selten zu erleben.

Und Don José? Der ist ein von Leidenschaften getriebener, schwacher Mensch, der nicht rational sein kann. Alle, die seinen ungebändigten Gefühlen im Wege stehen, werden umgebracht: Zuniga, Micaela und dann auch Carmen, die nicht mehr der ihr zugedachten Rolle in seinem Leben entspricht.

Pilavachi verzichtet auch auf jegliche Folklore: Wenn der oft so herzig dargestellte Kinderchor wie hier im Theater Hagen Schlachtaufstellung nimmt und mit Holzgewehren aufeinander schießt, wird deutlich, welch martialischen Text die Kinder da eigentlich singen. Auch die Darstellung der Diebesbande als Gruppe von Schleppern wirkt absolut nicht bemüht, sondern passt perfekt.

Peer Palmowski baut ein stimmiges Bühnenbild, das besonders auch im vierten Akt überzeugt, wenn Escamillo von seinen Fans bejubelt wird, während der rasende Don José in den Katakomben der Arena Carmen ersticht.

An diesem Premierenabend passt alles: Spielfreudig und gesanglich bestens disponiert ist der Opernchor (Einstudierung: Wolfgang Müller-Salow). Maria Klier und Marilyn Bennett punkten als knallbunte Bordsteinschwalben, Raymond Ayers als Morales, Jeffery Krueger und Richard van Gemert als Menschenschmuggler und Orlando Mason als fieser Zuniga. Sie alle beweisen einmal mehr die große Leistungsfähigkeit des so ausgewogen besetzten Hagener Ensembles.

Das gilt auch für Frank Dolphin Wong. Lange Jahre war er fest am Haus, nun kehrt er als Gast zurück. Seinen Escamillo stattet er mit großer vokaler und darstellerischer Selbstverständlichkeit aus. Charles Reid singt die Partie des Don José – sein Tenor verfügt über große Strahlkraft, gleichwohl gelingt es ihm, die ganze Labilität des Charakters deutlich werden zu lassen. Reids Duett mit Micaela ist sicher einer der Höhepunkte dieser Inszenierung. Jaclyn Bermudez ist diese Micaela, und eine wirklich superbe! Wenn sie ihren wunderschönen Sopran zum Aufblühen bringt, klingt das schlicht und ergreifend berührend. Und Kristine Larissa Funkhausers Carmen hat enorme Suggestivkraft, von Anfang an. Selbst wenn da ihre Stimme mal nicht richtig anspringt, die Intonation mitunter nicht hundertprozentig sitzt, zieht die Sängerin ihr Publikum doch ganz unmittelbar in ihren Bann.

Einen großen Tag erlebt das Philharmonische Orchester Hagen unter seinem Chef Florian Ludwig. Die Musiker steigern sich in einen wahren Carmen-Rausch hinein, spüren allen Farben nach und lassen ihren Gefühlen freien Lauf. Wirklich erstklassig.

Dabei lebt das Theater Hagen finanziell und personell schon seit langem am äußersten Existenzminimum. Ein Glücksfall, dass die Theatermacher dennoch so hoch motiviert sind! Der Premierenjubel jedenfalls wollte gar kein Ende nehmen. Jetzt ist es höchste Zeit, dass die Verantwortlichen in Politik und Verwaltung vor Ort endlich begreifen, welchen Schatz sie da mit ihrem Theater haben.

Weitere Vorstellungen: 14. Juni, 28. Juni, 3. Juli, 10. Juli – Wiederaufnahme in der Spielzeit 2013/2014

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