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Ohne Betulichkeit: Sidney Corbetts „Ubu“ in Gelsenkirchen. Foto: Pedro Malinowski
Ohne Betulichkeit: Sidney Corbetts „Ubu“ in Gelsenkirchen. Foto: Pedro Malinowski
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Lass die Kids mal machen: Sydney Corbetts „UBU“ – eine musikalische Groteske fürs Jugend-Orchester des Theaters Gelsenkirchen

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Bei den Proben regierte noch der Zweifel. Irgendwie mochte selbst Komponist Sydney Corbett nicht glauben, dass das „Wagnis“, das er mit diesem Auftragswerk eingegangen war, von Erfolg gekrönt sein würde. Denn immerhin: Für die Hauptbeteiligten, für den Gelsenkirchner Kinderchor wie fürs MIR-Jugend-Orchester, das seit vier Jahren am Gelsenkirchner Musiktheater im Revier installiert ist, war diese 80-Minuten-Produktion die erste Begegnung überhaupt mit zeitgenössischer Musik.

Hatte man sich bisher mit Bernstein, Gershwin, Weill eher in der gemäßigten Moderne umgetan, so forderte die Realisierung dieses Auftragswerks die ziemlich rückhaltlose Bereitschaft, sich einer Musik zu stellen, zu der das Klangbild noch nicht fixiert ist. Und dazu diese wilde Story!

Alles drin

„UBU“ nennen Corbett und seine Librettistin Simone Homen de Mello diese deftig gewürzte Groteske auf eine Geschichte, die seinerseits Ende des 19. Jahrhunderts einen Theaterskandal ausgelöst hat: „Roi Ubu“ von Autor Alfred Jarry. Neu hinzugekommen mit Corbett/de Mello ist die Rahmenhandlung der zwei Raumfahrer, die sich in eine dekadente polnische Adelswelt des 19. Jahrhunderts beamen und in eine Gewaltspirale eintauchen aus der sie nicht mehr herausfinden. Alles, was die tägliche Nachrichtenlage von den Kriegs- und sonstigen Pervers-Schauplätzen dieser Welt so bereithält, sämtliche Todsünden der Menschheit kommen wieder. Neu daran ist nur, dass ein Komponist hingeht und genau dies in ein Jugendstück hineinschreibt respektive nicht ausspart.

Die sonst verbreitete Betulichkeit der sogenannten „Stücke für Kinder“, ist Corbetts Sache nicht. Völlerei, Mordkomplott, Sex, Hinrichtungen, Gewalt – alles muss rein. In der grotesken Übertreibung ist zwar alles irgendwie entschärft, aber eben nicht ausgespart. Und dazu als Transportmittel direkt aus Corbetts Kompositionswerkstatt diese zwischen Unschuldsgeste und Kratzbürste schwankenden Instrumental- und Melodielinien, an denen Chor und Jugend-Orchester ganz schön zu knabbern haben. Eine Art permanenter V-Effekt.

Ernst genommen

Andererseits. Corbett ist sich sicher: „Ich finde, dass die Kids wesentlich mehr drauf haben als wir denken.“ – Was diese MIR-Produktion nun tatsächlich unter Beweis gestellt hat. Und noch dies konnte bewiesen werden: Zwei Wochen Osterferien lassen sich offenbar nicht nur zum Zeit-Totschlagen nutzen, sondern vor allem dazu, eine abendfüllende Opernproduktion für Solisten, Kinderchor, Jugendorchester ausgesprochen superb auf die Beine zu stellen.

Und selbst wenn die zugrundeliegende story grotesque um den wankelmütigen Lustmörder Ubu, seinem hyänenhaften Eheweib, einem Raumschiff plus installierter Zeitmaschine, die am Ende nicht mehr kontrolliert werden kann und versagt wie alle Technik versagt und in den Untergang führt (sinnigerweise fiel der Gelsenkirchner Premierenabend just auf den einhundertsten Jahrestag der Titanic-Katastrophe) – auch wenn sich der geistige UBU-Überbau den jungen und jüngsten Akteuren noch nicht ganz erschlossen hat, soviel haben sie schon verstanden: Hier ist ein Musiktheater am Werk, das sie, die Kids, ernst nimmt und sei es man ist grade mal elf Jahre jung wie die Nachwuchs-Geiger Rafael und David. Letzterer, ein schmächtiger Blondschopf, ist von seiner Lehrerin „geschickt“ worden. Beworben hatte er sich schon in der zurückliegenden Spielzeit. Erst jetzt aber hat es „geklappt“. Heißt also: Ist schon was, in einem „richtigen“ Orchester mit einem „richtigen“ Stück in einem „richtigen“ Theater spielen!

Mit Stützen

Bliebe die Frage nach den professionellen Stützen dieser erfreulichen MIR-Produktion? Ein halbes Dutzend Musiker der Neuen Philharmonie Westfalen halfen in den Stimmen. Mit Michael Dahmen und Almuth Herbst, mit Hongjae Lim und Irina Simmes war an diesem Abend zudem ein Gesangs-Quartett am Werk, das sämtliche Raketen-Stufen auch tatsächlich zur Zündung brachte. Alexander von Pfeil schließlich inszenierte mit Maximal-Schwung, ließ keinen Quadratzentimeter MIR-Theater unbespielt. Und fürs Auge gab es auch einiges: Katharina Gault kleidete den Gelsenkirchner Kinderchor derart farbenfroh, dass es eine Freude war.

Und dann war da noch mit Clemens Jüngling ein Dirigent am Pult, der in vier Jahren MIR-Jugend-Orchester-Leitung Profil und Sicherheit auch für Wagnis-Produktionen wie diese gewonnen hat und abrufen kann. In den Vorbereitungen den Orchester-Kids ein unermüdlich insistierender, in der Ur-Aufführung ein umsichtig operierender Kapellmeister mit Klarheit der Zeichengebung, was auch in der (immer noch erfreulich dichten) Theaterlandschaft zwischen Rhein und Ruhr mit Interesse registriert ward.

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