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Celibidache Berlin Recordings 1945-1957
Celibidache Berlin Recordings 1945-1957
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Leidenschaftliche Glut, messerscharfe Präzision: Celibidaches Berliner Aufnahmen 1945–1957

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Celi in Berlin – hatten wir das Thema nicht erst kürzlich, sogar in dieser Zeitschrift (nmz 9/11)? Stimmt – aber das waren bloß die RIAS-Aufnahmen ab 1948. In Koproduktion mit dem rbb und dem Deutschen Rundfunkarchiv erscheinen jetzt erstmals alle übrigen Einspielungen (davon 29 Erstveröffentlichungen), sorgfältig remastert von den originalen 76 cm/s-Tonbändern, die von Celibidache aus den Jahren 1945 bis 1953 mit den Berliner Philharmonikern und dem Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin erhalten sind.

Mit einer bemerkenswerten Ausnahme: die leider nur fragmentarische 7. Beethoven mit dem Radio-Symphonie-Orchester Berlin ergänzt fulminant das auf der früheren Box enthaltene Sonderkonzert zum 70. Geburtstag von Celibidaches Lehrer Heinz Tiessen, das zugleich Celis letztes Berliner Dirigat darstellte (1957!). Die einzige Repertoireüberschneidung betrifft Coplands „Appalachian Spring“ in einer zwei Tage späteren, dem Live-Mitschnitt überlegenen Produktion. Auch mit audites ebenso umfangreicher Furtwängler-Box von 2009 gibt es bloß eine einzige Doppelung: Celis  4. Brahms von 1945 steht einer Furtwänglerschen von 1948 gegenüber – und dies wohl auch nur, weil Furtwängler in der unmittelbaren Nachkriegszeit noch Dirigierverbot hatte. Nach dessen Aufhebung 1947 teilte man sich das Repertoire wohl brüderlich untereinander auf.

Versuchen wir uns das einmal vorzustellen (und es wird uns verwöhnten Wohlstandsbürgern kaum gelingen): Als die frühesten philharmonischen Konzerte stattfanden (die erste datierte Aufnahme stammt vom 1. Juli 45), gab es in der alten Reichshauptstadt so gut wie nichts, außer natürlich Unmengen von Schutt. Alles war Mangelware: Nicht bloß intakte Gebäude, sondern auch Essen, Heizmaterial, Fahrzeuge, Strom, Benzin – sogar  verlässliche Informationen waren knapp. Angesichts des zwischen den Ruinen der alten Philharmonie in der Bernburger Straße aufgenommenen Fotos fragt man sich, wie die Musiker anfänglich ihre Fräcke, ihr Notenmaterial, ja überhaupt ihre Instrumente zusammenbekommen haben. Über einen Mangel an begeistertem Publikum hatte sich die beiden Orchester und ihr junger, bei Amtsantritt gerade 33-jähriger Interimschef jedenfalls kaum zu beklagen: Die anfänglich zuweilen noch mit Naturalien bezahlbare Kultur diente inmitten des innerlichen und äußeren Chaos‘ geradezu als Lebens-, ja Überlebensmittel. Und es gab natürlich riesigen Nachholbedarf: War die deutsche Kultur vom Regime heftig missbraucht worden, war dafür manch ausländische, rassisch missliebige und als „entartet“ abgestempelte Musik seit zwölf Jahren nicht mehr erklungen.

Während sich also Furtwängler weiter für das deutsche Kernrepertoire (die Zeitgenossen Blacher, Fortner und Hindemith inklusive, dazu Tschaikowsky) stark machte, setzte Celibidache außer bewährten Klassikern wohl nicht ganz zufällig Tonsetzer der vier Siegermächte auf die Programme. Es erschienen unter anderem die Namen Britten (als zweitjüngster) und Purcell (als ältester), Berlioz, Bizet, Debussy, Milhaud, Roussel und Saint-Saens, Cui, Glasunow, Glière, Prokofieff, Rimsky-Korsakoff, Schostakowitsch und Strawinsky, sowie Barber, Copland, Diamond (als jüngster) und Piston auf den Programmzetteln (Ravel und Gershwin waren schon auf der ersten Box vertreten gewesen, außerdem hat Celibidache zumindest noch Lalo und Vaughan Williams aufgeführt). Eine solche Repertoirebreite hätte man ihm nicht unbedingt zugetraut, aber er war noch, wie sein Publikum, in der Lern- und Entdeckungsphase.

Außerdem galt es, zunächst für den Berliner Rundfunk (später der erste DDR-Radiosender) und dann den bis 1954 bestehenden NWDR ein Archiv von sendefähigem Material anzulegen. Das heißt konkret, dass die vom audite-Tonmeister Ludger Böckenhoff vorbildlich aufbereitete Box ganze sechs Live-Mitschnitte (dazu noch von kürzeren Stücken) enthält gegenüber 39 Produktionen, die sozusagen unter Studiobedingungen gemacht wurden: im Haus des Rundfunks in Charlottenburg und in der Jesus-Christus-Kirche in Dahlem. Es war hier also nicht wie für die Furtwängler-Box („Live In Berlin“) möglich, die Abläufe damaliger Konzerte zu rekonstruieren; konsequenterweise wurde Applaus, wo vorhanden, eliminiert. Die Anordnung innerhalb der CDs folgt eher Ländern und Komponisten. Der nicht geschönte, dabei rauscharme Klang erweist sich bis auf ganz wenige Ausnahmen (z. B. Busoni) als überraschend gut bis überragend, zwar mono, aber dafür in Rundfunk- und damit Sendequalität.

Die Interpretationen wirken bis auf zwei Fälle zeitlos aktuell: Barockmusik würde heute niemand so schwerfällig aufführen (so klingt Purcell wirklich wie „Alte Musik“), und die ganz im pathetischen Vorkriegsstil befangene Darbietung der Wolf-Lieder durch Margarete Klose ist auch nicht mehr zu ertragen. Viele Stücke, die  heute wieder oder immer noch als Katalograritäten firmieren, sind wahrscheinlich mit Recht vergessen, darunter solche von Darius Milhaud, Günter Raphael und Walter Piston. Andere erweisen sich als echte Entdeckung und wären eine Wiederbelebung wert: vielleicht die „Suite Nr. 3“ von César Cui, Albert Roussels „Petite Suite“ und das unvorhersehbar zwischen Nachromantik und Neoklassik changierende „Capricorn Concerto“ von Samuel Barber, sicher das „Konzert für Koloratursopran und Orchester“ von Reinhold Glière (wunderbar dargeboten von Erna Berger) und Rudi Stephans „Musik für Orchester“, ganz bestimmt Carlos Chávez Ramírez‘ „Sinfonía de Antígona“ und David Diamonds „Rounds for string orchestra“. Manche anerkannten Meisterwerke können in Celis Lesart hier (noch) nicht überzeugen, aber sein Beethoven, Bizet, Brahms, Debussy, Haydn, Mendelssohn, Mozart und Prokofieff (eine nie mehr übertroffene „Symphonie classique“) sind nicht nur über jeden Zweifel erhaben, diese Aufführungen reißen auch den heutigen Hörer unmittelbar durch leidenschaftliche Glut, tänzerische Grazie und messerscharfe Präzision mit. Richtig schade, dass Celibidache sich dem Medium Schallplatte nach 1953 systematisch verweigert hat, denn er hätte die meisten seiner weniger begabten und engagierten Konkurrenten das Fürchten gelehrt.

Eine Nachbemerkung: Obwohl davon keine Tondokumente erhalten sind – Sinfonien von Anton Bruckner hat Celibidache, ganz in den Fußstapfen des zeitlebens bewunderten Furtwängler, nachweislich schon in Berlin zu dirigieren begonnen. Aber bei aller vermeintlichen Offenheit gerade des jungen Celibidache bleibt es doch verblüffend, welch illustre Komponistenriege beide Magier des Taktstocks systematisch zu ignorieren schienen: Sie reicht von Mahler, Schreker, Zemlinsky und der ganzen Zweiten Wiener Schule über deutsche Emigranten wie Goldschmidt, Korngold, Toch, Krenek, Eisler und Weill, Skandinaviern wie Atterberg, Langgaard, Sibelius und Nielsen bis hin zu so faszinierenden Osteuropäern wie Bartók, Suk, Szymanowski und Celibidaches Landsmann Enescu.

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