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Scardanelli-Zyklus in Luzern. Foto: Georg Anderhub
Scardanelli-Zyklus in Luzern. Foto: Georg Anderhub
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„Mit Unterthänigkeit Scardanelli“ – Ein Holliger-Wochenende in Luzern

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Vier Wochen dauert das Lucerne Festival jeden Sommer von Mitte August bis Mitte September. Berühmte Orchester, große Pultstars und internationale Solisten geben sich im futuristischen Luzerner Konzertsaal KKL die Klinke in die Hand. Jeder Abend muss gelingen, wenn 3.680 Augen und Ohren den hochpreisigen Auftritt des Stardirigenten, der Starsolistin verfolgen. Doch parallel zu diesem Klassik-Glamour entwickelte sich das Lucerne Festival in den vergangenen Jahren immer stärker zu einem Festival der zeitgenössischen Musik.

Die Moderne durchzieht das Festival mit mehr als einem roten Faden, etwa bei den Moderne-Formaten mit Johannes Maria Staudt, Unsuk Chin und Heinz Holliger, bei den Konzerten des Lucerne Festival Academy Orchestra, von denen dieses Jahr auch eines von Simon Rattle dirigiert wurde, oder auch beim neuen Format „Young“, wo die Teilnehmer der Akademie selber als Veranstalter fürs Festival wirken. Fast – so scheint es – ist das Academy Orchestra wichtiger fürs Festival geworden, als das von Claudio Abbado mitbegründete und bis zu seinem Tod von ihm geleitete Lucerne Festival Orchestra mit den Promis an den Pulten. Nicht ganz zu Unrecht, denn die Akademisten sind die Zukunft der Festspiele.

Das Besondere an der Neuen Musik in Luzern erschöpft sich aber nicht darin, dass sie längst essentiell fürs Festival geworden ist. Ihr wächst quasi en passant auch das Repräsentative zu, das die internationalen Orchester und Namen nach Luzern bringen. Das ist nicht nur ein angenehmer Nebeneffekt, sondern ein zentraler Punkt: Neue Musik geht raus aus der Black Box, raus aus der Turn- und Mehrzweckhalle, rauf aufs Podium und ins Scheinwerferlicht der Hochkultur.

Ins Scheinwerferlicht der Hochkultur

Doch nicht nur die Scheinwerfer und die Aufmerksamkeit der Medien sind wichtig für die zeitgenössische Musik. Wichtig sind auch die Produktionsbedingungen, wie sie ein großes Festival wie das Luzerner bietet. Das konnte man vergangenes Wochenende wieder bei der ersten Gesamtaufführung von Heinz Holligers „Scardanelli Zyklus“ erleben. In der außergewöhnlichen Akustik des Salle blanche des von Jean Nouvel erbauten KKL wird alles hörbar, was Holliger in diesen Zyklus hineingelegt hat: jeder Chorklang vom Hauch bis zur vielstimmigen Akkordschichtung, jeder Flötenton hatte eine präzise Gestalt, eine geradezu räumliche Anwesenheit. Dinge, die sonst oft in der nicht vorhandenen Akustik von Mehrzwecksälen verpuffen. Diese akustisch-technischen Bedingungen allein sind schon außergewöhnlich und helfen mit dabei, auch eine scheinbar schwierige Musik in faszinierenden und durchhörbaren Klang-„Ansichten“ zu präsentieren.

Scardanelli Zyklus

Insgesamt 16 Jahre hat Holliger am 23-teiligen Scardanelli Zyklus gearbeitet – 1975 begann er mit den „Jahreszeiten, dreimal vier Lieder für Chor a cappella“ –, es folgten als Kommentare, Spiegelungen und Musik über Musik die „Übungen zu Scardanelli“. Die Uraufführung unter Holligers Leitung fand 1985 in Donauscheingen statt, das Konzert jetzt in Luzern mit dem erst 1991 abgeschlossenen „Ostinato funebre“ war die erste Begegnung mit dem kompletten Hauptwerk Holligers, in dessen Zentrum die Jahreszeiten-Gedichte von Friedrich Hölderlin stehen, die der Dichter im Tübinger Turm mit dem Namen Scardanelli unterzeichnete.

Ein „Firmament aus Musik“

Der Hölderlin-Herausgeber D.E. Sattler (Bremer Ausgabe) hatte die Aufgabe übernommen, vor dem Konzert über den Dichter im Tübinger Turm zu sprechen: Über Friedrich Hölderlins schicksalhafte Reise durch die Schweiz im Jahr 1802, während der – weit entfernt in Frankfurt am Main – seine große Liebe Susette Gontard, seine „Diotima“, am 22. Juni 1802 an den Röteln verstarb. Sattler stellte Bezüge zwischen Werk und Biografie her und sprach Jahreszeiten-Gedichte, über die Holliger, so Sattler, ein „Firmament aus Musik“ gespannt habe, den Himmel über Hölderlin.

In seinem „Scardanelli-Zyklus für Soloflöte, Orchester, Tonband und gemischten Chor“ schreibt Holliger eine Musik von großer Klarheit. Er greift überlieferte Formen wie Kanon oder Choral auf und steigert die Introvertiertheit des Werks, das sich dynamisch kaum über ein mezzoforte aufschwingt, Stück für Stück. So wie Hölderlin in den Jahreszeiten-Gedichten konsequent auf eine handelnde Person verzichtet, agiert analog auch der nachgeborene Komponist: Er habe versucht, „die Musik zusammenzupressen auf ganz wenig Material. Vorher war meine Musik direkter Ausdruck. Jetzt ist alles so abgehoben, dass auch das Subjekt zurücktritt, wie auch Hölderlin aus diesen Gedichten zurücktritt.“

Der Lettische Rundfunkchor und das Academy Orchestra des Festivals spielten unter der präzisen, im besten Sinne antiromantischen Leitung des Komponisten den kolossalen Zyklus ohne Pause. Mit der Wahl des Chors hatten Holliger und Moderne-Dramaturg Mark Sattler eine glückliche Hand bewiesen: der Lettische Rundfunkchor war der unangefochtene Hauptprotagonist des Vormittags, adäquat begleitet von den jungen Akademisten, die sich ja erst vor wenigen Wochen als Ensemble zusammengefunden hatten und schon zu Produzenten einer echten Sternstunde wurden. Der Flöte kommt im Scardanelli-Zyklus eine besondere Bedeutung zu: Hölderlin soll das Instrument gut beherrscht haben und Holliger würdigt mit zwei Solopartien, die Flötist Felix Renggli virtuos ausgestaltete, diese enge Verbundenheit des Dichters mit dem Blasinstrument. Holliger als Dirigent seines Stücks war nicht nur Takt-, sondern vor allem auch Sinngeber, nebenbei auch Scardanelli-Deklamator.

Holligers Idee des Dirigierens hatte man bereits tags zuvor anschaulich in den öffentlichen Proben seines Dirigierworkshops miterleben können. Hugh Brunt, Wiktor Kociuban, William Kunhardt und Kah Chun Wong erarbeiteten zwei auf den ersten Blick recht konträre Stücke: Claude Debussys rhythmisch-komplexe „Images pour Orchestre Nr. 3“ und die brachiale „Sinfonie in einem Satz“ von Bernd Alois Zimmermann.

„In Memoriam Ursula Holliger“

Mit insgesamt nur drei seiner Werke war der Schweizer Komponist Heinz Holliger an diesem Wochenende vertreten, aber mit welchen: Im Andenken an seine Anfang des Jahres verstorbene Frau, die Harfenistin Ursula Holliger, schrieb er unter dem Titel „Increschantüm“ sechs Lieder für Sopran und Streichquartett. Im Zentrum die Verse der rätoromanischen Autorin Luisa Famos, darunter „Der Flügel des Todes hat mich berührt im Juni an einem Montagnachmittag …“. In der Luzerner Lukaskirche gelangen dem Zehetmair Quartett und der Sopranistin Anu Komsi eine eindringliche Uraufführung. Zum Konzert unter dem Titel „In Memoriam Ursula Holliger“ gehörte auch das Debussy Streichquartett g-Moll und Holligers zweites, Eliott Carter gewidmetes Streichquartett.

Über weitere Moderne-Konzerte in Luzern mit Simon Rattle, Unsuk Chin und Barbara Hannigan dann mehr in der Printausgabe der nmz (Oktober 2014).

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