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Benjamin de Wilde (Joseph Pitt). Foto: Jacintha Nolte
Benjamin de Wilde (Joseph Pitt). Foto: Jacintha Nolte
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Später Höhepunkt der Berliner Opernsaison – Peter Eötvös’ Oper „Angels in America“ an der UdK

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An der in Sachen Musiktheater überaus einfallsreichen und innovativen Opernklasse der Universität der Künste ist Peter Eötvös' Oper „Angels in America“ als Berliner Erstaufführung zu erleben. Das ursprünglich siebenstündige Drama von Tony Kushner ist in der 2004 in Paris uraufgeführten Oper auf gut zweieinhalb Stunden verdichtet. Peter P. Pachl berichtet.

Tony Kushners überaus erfolgreiches Theaterstück ist seit seiner Uraufführung, 1991 am Broadway, in die Jahre gekommen. Die „Seuche“ AIDS , als Pest des späten 20. Jahrhunderts rezipiert und als ein Bild der Endzeitstimmung ausgeschlachtet, hat an Dimensionen des Schreckens verloren seit zahlreiche mit dem HIV-Virus infizierte Betroffene, etwa auch Patrice Chéreau, damit Jahre lang überlebt haben. Doch wo das Schauspiel aufhört, setzt die Musik ein. Und sie vermag sich im Falle dieser Collage mehr und mehr sich verzahnender Geschichten und Personen rund um die Homosexualität und deren Problematik in der Gesellschaft zu trumpfen.

Besondere Qualität gewinnt die Oper dadurch, dass die acht erforderlichen Darsteller*innen allesamt eine ganze Reihe von Rollen verkörpern und ihre Vielfältigkeit dabei unter Beweis stellen können. So gesehen erscheint die Wahl dieser Oper an einer Ausbildungsstätte für Künstler von großem Vorteil.

Denn selbst wenn einem Darstellenden eine Rolle etwas weniger überzeugend gelingt, vermag er/sie in einer anderen Rolle neu zu punkten. So beeindruckt etwa die Sängerdarstellerin Devi Suriani in der Partie der aufgrund des körperlichen Liebesentzuges ihres schwulen Ehemanns tablettenabhängig gewordenen Ehefrau Harper Pitt weniger, fasziniert dann jedoch als Untote: die vom korrupten Politiker Roy Cohn durch dessen tägliche Anrufe beim Richter wegen Spionage auf den elektrischen Stuhl geschickte Ethel Rosenberg, sucht auf Cohn in jenem Moment auf, als dieser offizielle Schwulenhasser aber selbst homosexuelle Potentat die AIDS-Diagnose erhalten hat; und das untote Opfer bringt den Politiker nach einem letzten mentalen Schlagabtausch in der Klinik eigenhändig um. Ethel Rosenberg ist einer jener titelgebenden Engel in Amerika, die zunächst unsichtbar bleiben. Doch die engelhaften Stimmen eines Vokalseptetts dringen in die US-Realität ein wie ein Vogelkonzert, und sie gemahnen dabei klanglich überdeutlich an die Visionen des todkranken Fritz im dritten Akt von Franz Schrekers Oper „Der ferne Klang“.

Erst kurz vor der Pause der mit 155 Minuten angekündigten, aber am Premierenabend dann doch 3 Stunden ausfüllenden Aufführung tritt The Angel erstmals leibhaftig auf. Im roten Latex-Kostüm steigt der Todesengel zu Beginn des zweiten Teils eine in blauem Licht flackernde zentrale Showtreppe herab. The Angel hat bewirkt, dass Prior Walter, der homosexuelle Nachfahre eines Ureinwanderers, vom Rat der Engel als prophetisches Sprachrohr auserkoren wurde. Aufgrund seiner Begegnung mit dieser weiblichen Pop-Ikone bekommt Prior eine Erektion: „ecstasy in excelsis“. Die Versammlung der Engel lädt Prior vor und lässt ihn am Radio eine erst in der Zukunft eintretende Reaktor-Katastrophe mitverfolgen. Doch Prior Walter verweigert sich dem Auftrag; er lehnt es ab, den unerbittlichen Fortschritt der Welt aufzuhalten, das Rad der Geschichte zurückzudrehen.

Für diese Szene sind alle mikroport-verstärkten Darsteller-Kolleg*innen der Handlung nun ebenfalls zu uniform gewandeten, beflügelten Engeln geworden – zu Angel Antarctica, Angel Asiatica (Verena Tönjes, zuvor Rabbi, Arzt und Mutter), Angel Europe (Benjamin de Wilde, zuvor Priors Partner Joseph Pitt), Angel Oceania (Alexander Fedorov), Angel Africanii und Angel Australia.

Die Inszenierung von Isabel Hindersin ist dicht, bewegt und ohne Peinlichkeiten. Gelacht wird einige Male über szenische Gags, aber auch über besungene Erektionen oder die Vokalisation des Wortes „Penis“ – in der im englischen Original erklingenden, deutsch übertitelten Aufführung.

Iris Christidi aus der Bühnenbild-Klasse nutzt die Drehscheibe mit dem Mittelaufbau einer steilen Treppe sinnvoll für die raschen Szenenfolgen und die sich überlagernden Räume. Sie reduziert die jeweiligen Topoi eigenwillig auf deren Details, etwa ein überdimensionales WC oder das Politikerpodest inmitten der Pappfigur eines gefährlichen Löwen. Gespielt wird auch rechts und links neben den Zuschauern und einmal auch auf einer Brücke darüber. Eine große, kreisrunde Projektionsfläche dient für die Umrisse der Engels-Erscheinungen als Video-Design.

Bis hinein in überdrehte Outfits durch die Kostümbild-Studentin Sophie Peters (der schwule Krankenpfleger in silberner Paillettenhose und auf Plateausohlen) ergibt sich ein fesselnder Musiktheaterabend, witzig und gekonnt im Einsatz der Mittel. Einzig die Gitterwand am Ende scheint entbehrlich, unvermittelt erinnernd an klassische „West Side Story“-Inszenierungen. Und der Kusshände werfende Hauptengel zeigt in der finalen Redundanz, dass der Dramaturgie dieser Spielvorlage am Ende die Kraft ausgegangen ist: Gott ist zwar nicht tot aber weggelaufen, und er soll von den Engeln dafür verurteilt werden.

Makellos

Beeindruckend, dass es der Universität der Künste gelingt, diese Oper mit den erforderlichen acht multiplen Solist*innen durchwegs doppelt zu besetzen. Auch im Orchestergraben, wo der junge Dirigent Christian Schumann Akzente souverän setzt und Klangflächen-Strukturen koordiniert, gibt es nur zwei Gäste: einen E-Gitarristen und den Spieler der seltenen Kontrabassklarinette. Streicher, Holz inklusive Saxophon, Blech und Schlagzeug, klassische Gitarre, Celesta und Hammondorgel des Symphonieorchesters der UdK Berlin sind hingegen aus den eigenen Reihen der Studierenden besetzt – und das makellos.

Am Premierenabend gefielen besonders der Counter Eduardo Rojas als tanzende Werbefigur und als Krankenpfleger sowie Daniel Nicholson, überragend in der gerissenen Verkörperung des historischen Trump-Vorkämpfers Roy Cohn.

Während Xenia Cumento die umfangreichen Erzählungen von The Angel etwas zu gleichförmig gestaltet, verfügt Benjamin Popson als Prior Walter darstellerisch und stimmlich über zahlreiche Facetten: vom tuntigen Springinsfeld über die immer dramatischere Gestaltung der Krankheit, bis hin zu deren schließlicher Überwindung, eine Leistung in großem Format.

Am Ende einhelliger Jubel für alle Beteiligten auf, unter und hinter der Bühne, für das Regieteam und auch für den anwesenden Komponisten.

Wer noch eine Karte für die nächsten Aufführungen ergattern kann, sollte dies unbedingt tun: ein besonderer, später Höhepunkt der Berliner Opernsaison.

  • Weitere Aufführungen: 28., 29., und 30. Juni 2019.

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