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Nach PISA: Bildungsbegriff in Deutschland muss neu definiert werden

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Die Arbeitsgemeinschaft Deutscher Chorverbände (ADC) hat sich (gerade nach der PISA-Studie und den teils haarsträubenden Reaktionen darauf) noch einmal zum Thema "Singen mit Kindern" geäußert und die zuständigen Ministerien und Parlamentarier angeschrieben.

ARBEITSGEMEINSCHAFT
DEUTSCHER CHORVERBÄNDE e. V.
Allgemeiner Cäcilien-Verband für Deutschland · Arbeitskreis Musik in der Jugend · Deutscher Allgemeiner Sängerbund
Deutscher Sängerbund · Internationaler Arbeitskreis für Musik · Verband Deutscher KonzertChöre
Verband evangelischer Kirchenchöre Deutschlands


R e s o l u t i o n


An die für Kindergärten und Schulen zuständigen Ministerien der Länder

An die für die Ausbildung von Erzieher/innen und Grundschullehrer/innen zuständigen Ministerien der Länder

An die Damen und Herren Abgeordneten in den betreffenden Parlamentsausschüssen

An den Deutschen Musikrat und die Landesmusikräte


HAUPTSACHE MUSIK ist der Titel einer seit einigen Monaten laufenden Aktion des Deutschen Musikrats. Zu allererst soll sie darauf hinweisen, welch unverzichtbarer Bestandteil für die Persönlichkeitsentwicklung junger Menschen die Hinführung zum eigenen aktiven musikalischen Tun ist.

Viel Positives ist zum Glück inzwischen passiert! Verbände und Einzelpersonen, Organisationen und Länderministerien haben konkrete Projekte auf den Weg gebracht. In Baden-Württemberg ist eine „Stiftung Singen“ begründet worden, und in Tausenden von Schulklassen hängen Liederkalender, die zum Singen einladen. Der Verband der Musikschulen hat mit dem Verband der Schulmusiker und dem Deutschen Sängerbund Zusammenarbeit und damit Intensivierung der Bemühungen beschlossen. Einige Chorverbände (Verband evangelischer Kirchenchöre, Arbeitskreis Musik in der Jugend, Internationaler Arbeitskreis für Musik) haben die Zahl ihrer Weiterbildungskurse für Erzieher/innen und Grundschullehrer/innen erheblich ausgeweitet.

Und doch - noch ist das doppelte Grundproblem nicht aus der Welt: die Ausbildung der Erzieher/innen und der Grundschullehrer/innen geht noch nicht wieder gründlich genug auf Musik ein und die Rückkehr von mehr Musikstunden in die Stundentafeln ist noch nicht vollzogen.

Die derzeitige öffentliche Diskussion zeigt, dass unser Bildungsbegriff an vielen Stellen neu diskutiert und neu gefasst werden muss. Dazu gehört auch, dass die Wertschätzung kultureller Bildung wieder anerkannt und ihre unbedingte Notwendigkeit wieder gefordert wird. Sie bietet ein lebenswelt- und handlungs-bezogenes Verständnis von Lernen, das darauf abzielt, Kindern und Jugendlichen über künstlerische Medien Wege zu erschließen, die Welt in ihrer Komplexität zu begreifen und verantwortungsbewusst mitzugestalten. Kulturelle Bildung fördert Schlüsselkompetenzen wie Kreativität und Selbständigkeit sowie Kommunikations- und Problemlösungsfähigkeiten in unterschiedlichen Lernumwelten. Die Zukunftsfähigkeit des Bildungswesens hängt davon ab, inwieweit es gelingt, die vorliegenden Erkenntnisse unterschiedlicher Bildungspartner zusammenzuführen und umzusetzen. Sonst unterliegen wir der Gefahr einer technokra-tischen Engführung des Bildungsbegriffs, der den Herausforderungen der Zukunft nicht standhält. (Die Bundesvereinigung Kulturelle Jugendbildung/BKJ hat hierzu beispielhafte Veranstaltungen durchgeführt und Ergebnisse publiziert!)

Wir wollen nicht anklagen und nicht jammern! Wir wollen angesichts der angesprochenen ermutigenden Zeichen nur zweierlei:
noch einmal eine Analyse aus unserer Sicht erbringen und
noch einmal unsere Wunschvorstellungen formulieren.


Analyse

Die Basis für eine gesunde Musikkultur einer Gesellschaft wird im frühesten Kindesalter gelegt. Die Dominanz der rein passiv zu konsumierenden Unterhaltungsmusik im Fernsehen und auf den zur Verfügung stehenden Medien führt bei Kindern zwangsläufig zu passivem Verhalten im musikalischen Bereich. Musik ist im Verständnis der meisten Kinder ein leicht verfügbarer, fast ständig vorhandener Umweltfaktor, der von außen an sie herangetragen wird, den sie lustvoll genießen, ohne selbst aktiv daran mitzuwirken. Dieser beklagenswerte Zustand hat zu einer übergroßen Kluft zwischen dem durchschnittlichen passiven musikalischen Konsumverhalten der Bevölkerung und der elitären Pflege im Bereich der sog. klassischen Musiktradition geführt.

Da im Elternhaus mit Kindern im Durchschnitt kaum gesungen und musiziert wird und die Erzieher/innen in den Kindergärten nur eine rudimentäre Musikausbildung erhalten, fällt den Schullehrkräften die Aufgabe zu, die Kinder zu aktivem Umgang mit Musik hinzuführen. Dies wiederum ist eine utopische Forderung, da nur ein verschwindend geringer Prozentsatz künftiger Grundschullehrer/innen im Verlauf ihres Studiums im Fach Musik ausgebildet werden.

Beim Umgang mit Sprache und Schrift und beim Umgang mit Zahlen kann man davon ausgehen, dass Studentinnen und Studenten für das Grundschullehramt durch ihre vorausgegangene Schulbildung ein genügend hohes Niveau an Kenntnissen erworben haben, um später Kinder unterrichten zu können. Die Lehrerbildung konzentriert sich daher stark auf sachliche Inhalte der verschiedenen Fächer und auf die Methodik und Didaktik des Unterrichtens. Im Bereich der Musik allerdings beherrscht ein großer Prozentsatz derer, die das Fach Grundschulpädagogik wählen und später Musik unterrichten sollten, nicht im mindesten die Grundtechniken des Singens, des Spielens eines Musikinstruments oder des Umgangs mit der musikalischen Notation. Zahlreiche künftige Lehrerinnen und Lehrer sind musikalische Analphabeten.

Das Problem stellt sich als „circulus vitiosus“ dar:
Im Elternhaus wird mit den Kindern nicht gesungen und musiziert, weil die Eltern dies selbst nicht gelernt haben oder keine Zeit dafür finden.
Im Kindergarten sind überwiegend Erzieher/innen ohne spezielle Musikausbildung tätig.
Die Lehrkräfte an Grundschulen sind zum größeren Teil musikalisch unausgebildet. Das Singen (in Verbindung mit Bewegung und dem Spielen elementarer Instrumente), das für Kinder im Grund-schulalter eine ganz natürliche Lebensäußerung darstellt, unterbleibt.
Die Musiklehrer/innen der Gymnasien sind zum Großteil hervorragend für einen hochqualifizierten Musikunterricht ausgebildet. Sie beklagen die Tatsache, dass die meisten Kinder ohne Voraussetzungen des Singens und Musizierens an ihre Schule kommen. Die Stunden- und Lehrerkapazitäten im Fach Musik reichen nicht aus, um eine breite Basis von Schülern/innen zu aktivem Umgang mit Musik hinzuführen. Aufgrund zahlreicher Abwahlmöglichkeiten des Faches Musik erhält nur ein geringer Prozentsatz der Schüler/innen einen regelmäßigen und fundierten Musikunterricht. Die privaten und von Gemeinden mitfinanzierten Musikschulen leisten hier zwar eine sehr wertvolle Kulturarbeit. Da aber der Besuch einer Musikschule von der Bereitschaft der Eltern abhängt, dafür Geld zu investieren, können diese Institutionen den Musikunterricht an den öffentlichen Schulen nicht ersetzen. Zudem sind viele klassisch gebildete Musiklehrkräfte nicht in der Lage, ihre Schüler/innen bei ihrem jugendgemäßen oder auch volkstümlich geprägten Verständnis von Musik abzuholen.
An den Musikabteilungen der Universitäten gibt man sich damit zufrieden, intensiv mit einem sehr geringen Teil von Studenten/innen zu arbeiten, die freiwillig das Fach Musik wählen.


Wunschvorstellungen

Eine Abhilfe dieses bedauernswerten Zustandes kann nur geschehen, wenn auf allen Ebenen gleichzeitig Änderungen angestrebt werden. Durch zahlreiche Untersuchungen ist eindeutig bewiesen, dass ganz besonders das gemeinschaftliche Singen und Musizieren bei Kindern einen Fortschritt in der Entwicklung sozialer und kognitiver Fähigkeiten bewirkt. Es ist daher falsch, im Fächerkanon der Schulen Musik zugunsten wissenschaftlicher Fächer zu kürzen.

Die Eltern müssen dafür sensibilisiert werden, dass Singen und Musizieren für die Kinder weit mehr ist als angenehmer Zeitvertreib.

Die Erzieher/innen müssen pflichtmäßig und intensiv im Fach Musik und Bewegungserziehung ausgebildet werden.
Musikunterricht muss in den Stundentafeln der Gymnasien wieder verstärkt werden. Die Fähigkeit zum lustvollen Umgang mit Popularmusik muss bei der Ausbildung der Musiklehrer/innen für Realschulen und Gymnasien stärker berücksichtigt werden. Der gesunde
Umgang mit der Singstimme muss im Schulmusikstudium in der Bewertung dem künstlerischen Spiel eines Instrumentes gleichgestellt werden.
An den Universitäten und anderen entsprechenden Ausbildungsstätten muss in der Grundschullehrer/innen-Ausbildung die Wahlfreiheit zwischen den Fächern Sport, Kunst und Musik zugunsten einer Minimalausbildung in allen drei Fächern abgeschafft werden. Der gesunde Umgang mit der eigenen Sprech- und Singstimme muss zu einer Grundvoraussetzung für das Studium des Faches Grundschulpädagogik erhoben werden. Die Ausbildung im künstlerischen Fach Opern- und Konzertgesang qualifiziert nicht automatisch für einen Lehrauftrag in Vokalunterricht im Rahmen der Musiklehrer/innen-Ausbildung. Die Vokalpädagogik an Universitäten und Schulmusikabteilungen der Hochschulen muss sich an den Erkenntnissen der Stimmphysiologie und am Ziel des gemeinschaftlichen Singens und Musizierens mit Kindern und Jugendlichen orientieren.

Wolfenbüttel, den 28. 03. 2002

gez. Hans-Dieter Starzinger, Präsident ADC
gez. Rolf Pasdzierny, Geschäftsführer ADC,
Präsident Verband Deutscher KonzertChöre, Generalsekretär Arbeitskreis Musik in der Jugend



gez. Prof. Andreas Göpfert
Vizepräsident Arbeitsgemeinschaft Deutscher Chorverbände (ADC)
Stellvertr. Vors. Arbeitskreis Musik in der Jugend (AMJ)

gez. DKMD Walter Hirt
Präsidium Arbeitsgemeinschaft Deutscher Chorverbände (ADC)
Allgemeiner Cäcilien-Verband für Deutschland (ACV)

gez. Karin Kirsch
Präsidium Arbeitsgemeinschaft Deutscher Chorverbände (ADC)
Verband evangelischer Kirchenchöre Deutschlands (VeK)

gez. Jürgen Klenk
Präsidium Arbeitsgemeinschaft Deutscher Chorverbände (ADC)
Vorstand Internationaler Arbeitskreis für Musik (IAM)

gez. Wolfgang Schröfel
Präsidium Arbeitsgemeinschaft Deutscher Chorverbände (ADC)
1. Vizepräsident Deutscher Allgemeiner Sängerbund (DAS)

gez. Wolfgang Seeliger
Präsidium Arbeitsgemeinschaft Deutscher Chorverbände (ADC)
Beirat Arbeitskreis Musik in der Jugend (AMJ)

gez. Prof. Reinhard Stollreiter
Präsidium Arbeitsgemeinschaft Deutscher Chorverbände (ADC)
Vizepräsident Deutscher Sängerbund (DSB)
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