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Richard Wagners Werk und seine Beziehungen - Dieter Borchmeyer liefert mit seinem Buch «Ahasvers Wandlungen» eine umfassende Betrachtung
Bayreuth (ddp-bay). Alle Jahre wieder bietet der Bayreuther Festspiel-Sommer Anlass zu neuen Veröffentlichungen. In schöner Regelmäßigkeit werden Familienmitglieder des Wagner-Clans unter die Lupe genommen, und mindestens eine groß angelegte Monografie gilt dem umstrittenen Meister selbst. Nachdem die stark psychologisierende Wagner-Analyse des Bayreuth-Kritikers Joachim Köhler im Herbst 2001 für Gesprächsstoff sorgte, erschien kürzlich im Insel Verlag eine umfassende Arbeit des Heidelberger Germanisten Dieter Borchmeyer: «Richard Wagner. Ahasvers Wandlungen».Dem renommierten Wagner-Spezialisten ist weniger daran gelegen, neue Skandale an die Öffentlichkeit zu befördern, als fundierte kulturhistorische Betrachtungen zu liefern. So verweist der Untertitel «Ahasvers Wandlungen» laut Borchmeyer auf dessen Affinität zu manchen Traditionen jüdischen Denkens. Der Nachweis dieser Beziehungen gehört sicherlich zu den wichtigsten Verdiensten Borchmeyers.
Daneben greift der Autor einmal mehr die Frage nach dem Antisemitismus in Wagners Werk auf. Die Figur des wenig sympathischen, kleinkarierten Stadtschreibers Sixtus Beckmesser aus den «Meistersingern» ist bei ihm keine Parodie auf einen Juden, sondern verkörpere vielmehr den pedantischen Deutschen. Damit widerspricht der Wissenschaftler vor allem auch Theodor W. Adorno, der 1952 in seinem «Versuch über Wagner» die «Zurückgewiesenen in Wagners Werk» in erster Linie als Judenkarikaturen verstand. Dieses Vorurteil - so Borchmeyer - ist eines der ältesten in der Wagner-Forschung, jedoch wissenschaftlich nicht haltbar.
Vielmehr sei Beckmesser, an dem diese Diskussion immer wieder festgemacht wird, der im negativen Sinne typischste Deutsche in Wagners Werk. Schon die Ratszugehörigkeit und das hohe Prestige Beckmessers hätte ein Jude im historischen Nürnberg nie erreichen können. Borchmeyers Resümee: «Beckmesser trägt weder offen noch verdeckt, weder in Text und Paratext noch in Kontext oder Subtext jüdische Züge.»
In der umfangreichen, im übrigen gut nachvollziehbaren Monografie nimmt die Antisemitismus-Thematik allerdings nur einen Teil ein. Borchmeyer geht es um die umfassende Einbettung von Wagners Werk in einen historischen, politischen, literarischen wie musikgeschichtlichen Kontext. Dabei reicht die Betrachtung von den frühen Fragmenten des jungen, sich noch orientierenden Wagner über die «Feen» oder «Rienzi» bis hin zum späten «Parsifal». Auch die unvertonten Opern wie die «Hochzeit» erfahren eine stoffgeschichtliche Einordnung.
Zudem wird das Vor-, Um- und Wirkungsfeld Wagners analysiert. Vorbilder wie Schiller oder Goethe setzt der Autor in Bezug zu Wagners Werk, ohne wichtige Antipoden wie Grillparzer und Heine zu vergessen, von dem der Komponist immerhin die «Holländer»-Geschichte übernommen hatte. Auch der Rezeption von Wagners Werk - etwa durch Friedrich Nietzsche oder Thomas Mann - widmet Borchmeyer einen großen Teil seines Buches. Hinzu kommen das Verhältnis oder besser Unverhältnis zu Verdi sowie die Würdigung des von der Forschung gerne vernachlässigten Wagner-Enkels Franz Wilhelm Beidler, der als Biograf Cosimas für kritische Betrachtungen aus nächster Nähe sorgte.
Christa Sigg
(Dieter Borchmeyer, Richard Wagner: «Ahasvers Wandlungen», Fischer
Verlag, Frankfurt, 647 Seiten, 44,90 Euro, ISBN 3-458-17135-5, VÖ Juli 2002.)