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Auf schwing dich Sopran, ins Klingsorland

Untertitel
Zwei Dresdner Jubiliäumstage zum 10. Geburtstag von Auditivvokal
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Man hatte sich ein paar schöne Überraschungen ausgedacht. Hinterher war der Geschenktisch dann so voll, dass sich alles beinahe selber Konkurrenz machte und man das allerschöns­te Überraschungsei beinahe überlesen hätte, diese zwei locker auf Reim gewebten Fünfzeiler gleich beim Aufschlagen der Jubiläumsbroschüre. Klarer Fall, ein Gedicht. Eines, das tatsächlich „Auditivvokal“ überschrieben und auch genau so, im designten Ensemble-Halbfett, geschrieben war. Darunter der Name des Urhebers: Marcel Beyer. Daher also der Name! Nur, dass auf Nachfrage folgender Bescheid erging: Nein, genau andersherum sei es gewesen, nicht die Auditiven hätten „Auditivvokal“ in einem Marcel Beyer-Gedicht entdeckt, sondern Marcel Beyer habe Auditivvokal ein gleichnamiges Gedicht zum bestehenden Namen geschrieben und – geschenkt. Einfach so.

Natürlich nicht einfach so, sondern weil das Ensemble mit dem Dichter schon mal glücklich zusammengearbeitet hat, was diesem offenbar seinerseits Gelegenheit geboten hatte, Witterung aufzunehmen. Das „Kling­sorland“, das Beyer dann mit starkem Hesse-Bezug aufgerufen hat, ist trefflich assoziert. Auditivvokal hat tatsächlich etwas von Maler Klingsors rauschhafter Hingabe an die Kunst, ans Leben, was schon an diesem ers­ten Jubiläumsabend im Vortragssaal der SLUB, der Sächsischen Landes-, Staats- und Universitätsbibliothek Dresden gleich an mehreren Stellen sicht- wie hörbar ward. Nur, weshalb ausgerechnet die SLUB?

Auch hier war‘s mehr als nur Kollege Zufall, der die Fäden zog. So wie der Poet seine Gedichte, so ist es die SLUB, die ihre Gunst ans Ensemble Auditivvokal Dresden schenkt. Dies nämlich die Überraschung Nr. 2: Tatsächlich hat man es geschafft, neben lebenden Staatsministerinnen, Bürgermeisterinnen, Fachreferentinnen, Professoren, Komponisten, jetzt auch noch SLUB-Wissenschaftler- und Dokumentarinnen zu Auditivvokal-Fans zu machen. Barbara Wiermann, Leiterin der Musikabteilung, möchte das später am Abend mit viel Klick und Hurra eröffnete Dokumentationszentrum Neue Dresdner Vokalschule als deutliches Zeichen verstanden wissen, dass man seitens der SLUB den historistischen Blick auf Stadt-, Kunst- und Landesgeschichte in seiner Ausschließlichkeit selber zu einem Stück Vergangenheit erklärt: „Wir wollen hier an diesem Ort zum Dialog über neue Musik einladen, ganz klar.“ Man begreift dies als Fortsetzung der Tradition des Archivs der zeitgenössischen Komponisten aus der DDR-Zeit – natürlich jetzt online. slub-dresden.de mit Suchwort Auditivvokal findet schon einmal „15 Treffer“. Darunter Georg Katzers „Song of Solomon – Hohes Lied für vier Stimmen“ sowie Michael Edward Edgerton „abaGar baRatur for 4 voices“. Zwei Komponisten, zwei Werke, zwei Ästhetiken, die im Verlauf des insgesamt etwas länglich geratenen „auditiven Roundtable“ überzeugend vorgestellt wurden, womit an dieser Stelle, Überraschung Nr. 3 und 4, das auditivvokale Kerngeschäft berührt war.

Dazu gehört zunächst die Beobachtung, dass Auditivvokal zwar gelegentlich auch ein Chor sein kann, eigentlich aber kein Chor ist. Gründungsdirigent Olaf Katzer (nicht verwandt, nicht verschwägert mit dem gleichnamigen Komponisten) hat da durchaus seine eigene Sicht der Dinge. Eine, die er sehr konsequent vom Stand der Komposition abhängig macht. Es ist dies überhaupt der archimedische Punkt, von dem so ziemlich alles in und um Auditivvokal konzipiert und konstruiert ist. Man versteht sich als Ensemble, auf dem und mit dem Komponisten spielen, experimentieren können sollen. Wie schon bei der Gründung des Ensembles 2007, so spielte auch hier durch ein Konzert an der Hochschule für Musik Carl Maria von Weber eine Schlüsselrolle, in diesem Fall eines  im Juli 2013. Auftritt Auditivokal Dresden mit Werken von Hans Joachim Hespos, Gerhard Stäbler, Carola Bauckholt, Luigi Nono. Gekoppelt daran ein Workshop der Vokalsolistin Sarah Maria Sun, wodurch die Auditiven um Olaf Katzer plötzlich eine Riesenaufgabe sahen, nämlich einerseits die Szene der Komponisten für die vernachlässigte Vokalmusik zu interessieren, andererseits die ganze Bandbreite der stimmlichen Möglichkeiten aufzuzeigen, was in wenigen Jahren geradezu zu einem Markenzeichen von Auditivvokal geworden ist. „Wir geben Workshops, wir geben Konzerte, wir geben Werke in Auftrag, wir laden viele Komponisten ein, um mit uns zu arbeiten, um mit unsern Stimmen zu hantieren.“ So Olaf Katzer, der aus diesen Erfahrungen auch das Selbstverständnis der  Formation berührt sieht: „Der Begriff des Chores ist ja schon fast ein historischer Begriff. Ich würde auch nicht unbedingt sagen, dass wir ein Ensemble sind. Vielleicht sollte man jedes Konzert anders bezeichnen. Natürlich sind wir auch schon chorisch aufgetreten. Wenn wir zum Beispiel Morton Feldmanns Rothko Chapel aufführen, dann bilden die 20 Sänger durchaus einen Chor, wenn man so möchte. Für mich ist aber wichtig, dass jedes Konzert eine eigene Identität aufbaut, weil die Werke so unterschiedlich sind.“

Auditivvokal – ein Chor? Wenn man so möchte. Eigentlich eher nicht.Was in den Auditiven steckt, davon legten die konzertierenden Teile des auf zwei Tage gestreckten Jubiläums umfassend Zeugnis ab. Kein Problem für Olaf Katzer, gleich zwei wunderbar harmonierende A-capella-Quartette aus seinem 20-köpfigen  Solistenpool zu bilden. Eine Repertoirebildung, die als solche natürlich keine Überraschung ist. Sich auf der Schnittkante alt/neu zu bewegen, gehört längst zum guten Ton. Überraschend vielmehr, wie Olaf Katzer sich auch von dieser Repertoirepflege nicht einlullen lässt. Hierfür standen die Improvisationen, die Ensemblemitglied Angela Wingerath zu Michael Edward Edgertons „extended vocal techniques“ darbot. „Erweiterte Vokaltechniken“, die in der Art eines durch alle Lagen und Register führenden Parforceritts tatsächlich Neuland auslotete, ausreizte. Hexerei? Nein, sagt die Sängerin und Stimmperformerin: sich einfach Stunden, Aberstunden geduldig-intensiv mit der Legende befassen. So lang bis der Arzt kommt? Wieder falsch. Bis der Kick kommt. Wie geht noch mal das Beyer-Gedicht? „Frau Indigo sang: / Auf schwing dich, Sopran, / lauf ins Klingsorland, / auch mir ist so warm – / Faunlibidoklang. / Faucht ihr mich doch an: / schlau, innig, floral, / Lautimbiß Vollrahm, / Hauch will ins Ohr, Mann – / Auditivvokal.“

  • Auf der chor.com 2017 findet am 15. September ein Konzert mit Auditivvokal statt, tags darauf geben Olaf Katzer, Angela Wingerath, Peter Motzkus und das Ensemble einen Workshop.

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