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Der Komponist Ludwig Thuille. Foto: Ludwig Thuille Gesellschaft e.V.
Der Komponist Ludwig Thuille. Foto: Ludwig Thuille Gesellschaft e.V.
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Bozens großer musikalischer Sohn

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Ludwig Thuille und das neue Festival „Wintermezzo“ ·
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Als man Ende des 19. Jahrhunderts im Raum Bozen einen Vogelweidhof ausfindig machte, schien für einheimische Forscher der Schritt nahe zu liegen, der Minnesänger Walther von der Vogelweide sei in Bozen geboren. Und da die (allerdings nicht wenigen) weiteren Städte mit Vogelweidhöfen keine gegenteiligen Ansprüche erhoben, wurde mitten auf dem größten Platz der Stadt für Walther von der Vogelweide ein Denkmal errichtet. Dessen Enthüllung im Jahre 1889 umrahmte der größte, nachweislich tatsächlich in Bozen geborene Musiker Ludwig Thuille, der unweit dieses Walther-Platzes am 30. November 1861 als jüngster Sohn eines Musikalienhändlers das milde Südtiroler Licht der Welt erblickte. Dass seine Familie aus Savoyen stammte, wie in einigen Musiklexika zu lesen ist, hat sich als nicht haltbar erwiesen; der Name Thuille ist in Südtirol durchaus verbreitet und scheint sich vom Diminutiv des Namens Matthäus herzuleiten. Ludwig, mit elf Jahren Vollwaise, wurde von der Witwe des Südtiroler Komponisten Matthäus Nagiller aufgenommen. Sie ermöglichte dem musikalisch Hochbegabten den Besuch des Gymnasiums in Kremsmünster und Innsbruck, und sie war es auch, die den Heranwachsenden mit dem drei Jahre jüngeren Richard Strauss zusammenbrachte. Die beiden jungen Musiker verband eine lebenslange, wenn auch nicht immer ungetrübte Freundschaft.

Das in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts im Zuge der Umbenennung des Walther-Platzes von den Italienern entfernte Denkmal fand in den späten 50er-Jahren in die Bozener Stadtmitte zurück, und nunmehr trägt der Platz den Doppelnamen Piazza Walther/Walther Platz. Fast alles ist zweisprachig in Bolzano/Bozen, der heute knapp hunderttausend Einwohner zählenden Südtiroler Metropole, Aufschriften und Ansagen – wobei in letzteren etwa 30 Prozent der Informationen in jeder Sprache unter den Tisch fallen.

Manfred Schweigkofler, der rührige Intendant der Oper im 1999 eröffneten Teatro Communale Bolzano/Stadttheater Bozen, hat ein neues Festival mit dem deutschitalienischen Namen „Wintermezzo“ initiiert, dessen erste „Settimana Internazionale“ die Freunde Richard Strauss und Ludwig Thuille musikalisch fokussiert genommen hat.

Und kurioserweise berichtete die italienischsprachige Tageszeitung „Alto Adige“ sehr viel ausführlicher und beherzter als das ortsansässige deutschsprachige Pendant, die Tageszeitung „Dolomiten“, über den im Vorfeld seines 100. Todestages, dem 5. Februar 2007, für Bozen wiederentdeckten Sohn der Stadt, Ludwig Thuille (1861 –1907).

Leiter des ortsansässigen Orchestra Haydn Bolzano/Trento – Haydn Orchester Bozen/Trient ist seit gut zwei Jahren Gustav Kuhn, der dessen Leistungsfähigkeit rasch gesteigert hat, so dass dieser Klangkörper zwischenzeitlich auch auf dem internationalen CD-Markt eine Rolle spielt (etwa mit der Einspielung von Ludwig Thuilles Symphonie und Klavierkonzert: cpo 777 008-2). Obgleich nicht in persona, sondern nur per Video-Zuspielung aus Paris am Eröffnungsabend zugegen, hat Gustav Kuhn als Co-Direttore des neuen Festivals zwei Jugendquartette der komponierenden Freunde Strauss und Thuille für Streichorchester gesetzt. Seine Bearbeitung beschränkt sich jedoch auf wenige Töne eines Auftakts und die Entscheidung, nicht alle Passagen tutti spielen zu lassen, sondern wiederholt die solistischen Intentionen des Originals beizubehalten.

Bereits diese frühen Kompositionen lassen die spätere Individualität der Meister erahnen. Thuilles Streichquartett von 1878 orientiert sich an Schumanns musikalisch-dichterischer Metaphorik, Strauss’ Quartett von 1880 gibt sich ungleich virtuoser, greift aber deutlich zurück auf Mozartsche Figuren und Beethovenschen Formwillen. Das jüngere Werk war besser einstudiert, Francesco Maria Colombo leitete die Streicher mit übergroßer Gestik.

Das von der RAI fürs Fernsehen aufgezeichnete Eröffnungskonzert fand im ebenfalls neu gebauten Auditorium Bolzano/Konzerthaus Bozen statt, umrahmt von einer Ausstellung über Leben und Werk Ludwig Thuilles. Der hatte seine Innsbrucker Studien bei Joseph Pembaur dem Älteren, anschließend in München bei Joseph Rheinberger und bei dem Pianisten Karl Bärmann an der Königlichen Musikschule fortgesetzt, wo er nahtlos vom Schüler zum Lehrer wurde. Als Nachfolger Joseph Rheinbergers übernahm er die Professur für Komposition und wurde so zum Vater der „Münchner Schule“. Zu seinen Schülern gehörten so unterschiedliche musikalische Charaktere wie Walter Courvoisier, Richard Wetz, Julius Weismann, Ernest Bloch, Walter Braunfels, August Reuß, Franz Mikorey, Joseph Pembaur der Jüngere, Clemens von Franckenstein, Fritz Cortolezis, Edgar Istel, Hermann Wolfgang von Waltershausen, Hermann Abendroth, Paul von Klenau, Rudolf Ficker, Rudi Stephan und Joseph Suder. Und bis in unsere Zeit hinein wirkte Thuille durch die von ihm – gemeinsam mit Rudolf Louis – herausgegebene Harmonielehre. Die von Fritz Pichler und Judith Paone gestaltete Ausstellung betont die Hauptlinie des ersten „Wintermezzo“-Festivals, von frühen Briefen der schwärmerischen Jugendfreunde („Liebster, bester, schönster, herr­lichster Ludwig! (...) Dein Dich innigliebender Richard“) bis hin zum Telegramm, welches am 5. Februar 1907 das all zu frühe Ableben Thuilles mitteilt und von Strauss in sein Tagebuch geklebt wurde. Richard Strauss, der den Weg des Hofkapellmeisters beschritt, brachte in Meiningen Thuilles erste Sinfonie zur Uraufführung und setzte sich in Berlin engagiert für Thuilles Opern ein.

Die jedoch waren beim ersten „Wintermezzo“ (sieht man ab von TV-Ausschnitten der Hagener „Gugeline“-Inszenierung aus dem Jahr 1999 in der Ausstellung und einem Symposionsbeitrag) leider nicht einmal auszugsweise zu erleben. Hingegen stand als Eigenproduktion (in einer vom Teatro Fenice ausgeliehenen Ausstattung) Richard Strauss’ „Ariadne auf Naxos“ auf dem Programm, als erste Opernarbeit des sich wacker schlagenden Haydn-Orchesters, von Arthur Fagan mit Routine geleitet und von Paul Curran aus der venezianischen Inszenierung, in der die Rahmenhandlung ins Heute übertragen wurde, für die Bozener Bühne adaptiert. Unter den höchst unterschiedlichen gesanglichen Leistungen ragten Jumi So als Zerbinetta und der junge Markus Werba als Harlekin heraus.

Symposions-Schlaglichter

Kurzweiliger als diese Oper selbst geriet ein Klaviergesprächskonzert von Stefan Mickisch, der mit viel sprachlichem Witz und pianistisch bravourösen Passagen Strauss’ verwendete Vorlagen – Schuberts Schlaflied, Donizettis „Liebestrank“ und Wagners „Liebesverbot“ – aufdeckte, launig den Verlauf der Handlung und fundiert ihre klassischen Tonart-Bezüge nachwies.

Ariadnes Monolog, harmonisch ausgehöhlt, war erneut zu erleben in der Uraufführung der Eigenproduktion „Filo d’Arianna“. Die Tanztheateradaption des Ariadne-Stoffes wurde von sechs Tänzern, einer Sängerin und einer Schauspielerin auf der als Spielort beeindruckenden Unterbühne des Theaters dargeboten. Ein siebenköpfiges Instrumentalensemble mischte Musiken von Monteverdi, Strauss und Petrassi eigenwillig mit Elektronik. Christina Alaimos Inszenierung und Ausstattung und Chiara Tanesinis Choreographie verstanden sich als eine Synopse ausgewählter Texte von Ovid, Herder, Dürrenmatt, Petit und Dickinson.

Individuelle Schlaglichter auf Thuille und Strauss warfen die Beiträge eines von Herbert Rosendorfer und Giacomo Fornari geleiteten Symposions, bei dem sich Karl Dietrich Gräwe für die Urfassung der „Ariadne“, gekoppelt mit Molières „Bürger als Edelmann“, stark machte und Alberto Fassone durch Vergleiche mit zeitgleichen Kompositionen die Bedeutung von Thuilles 1885 komponierter Sinfonie herausstellte.

Eine Wanderung auf den Spuren von Strauss und Thuille führte die Festspielgäste nach Schloss Englar in Eppan, wo Thuilles Librettist Otto Julius Bierbaum die literarische Creme seiner Zeit, darunter auch Rainer Maria Rilke, versammelt hatte. In einem Kammerkonzert brachte der Pianist Riccardo Zadra Strauss’ Stimmungsbilder op. 9 zu Gehör, und das Amarida Ensemble bewies seine außerordentliche Qualität mit Thuilles frühem Klavierquintett in g-Moll. Dieses Quintett, zusammen mit Thuilles Klavierquintett Es-Dur op. 20, hatte das Amarida Ensemble bereits im Jahre 2004 auf CD eingespielt (CD SKB o3), eine Aufnahme, der ich in ihrer individuellen Intensität durchaus den Vorzug gebe vor den beiden internationalen CD-Einspielungen (Oliver Triendl – Vogler Quartett, cpo 777 090-2; Tomer Lev – The Falk Quartet, Sanctuary Records DSV, CD DCA 1171).

In der Stiftskirche Gries-Bozen interpretierte Andrea Macinati Ludwig Thuilles hochromantisches Opus 2. Bei aller formalen Könnerschaft scheint diese dreisätzige Orgelsonate in a-Moll doch auch einem geheimen, dichterischen Programm zu folgen, so plastisch wurden – auf einer Orgel aus dem Todesjahr des Komponisten – das liedhafte Andante des Mittelsatzes und in der finalen Fuge Thuilles raumsprengend paratheatrale Intentionen. Von den rund 300 Briefen der Freundschaft zwischen Richard Strauss und Ludwig Thuille aus den Jahren 1877 bis 1907 sind nur ein knappes Drittel erhalten, wobei Thuille die empfangenen Briefe offenbar sorgsamer aufgehoben hat als der um drei Jahre jüngere Freund. Manche sind wohl auch verschwunden, um Spuren zu verwischen; erhalten hat sich immerhin ein Brief, in welchem Strauss den „besseren Theoretiker“ noch 1902 für seine „Sinfonia domestica“ um kontrapunktische Hilfe bat.

Ausgewählte Beispiele aus dieser umfangreichen Korrespondenz brachte der Abend „Lieder und Briefe“, dessen Künstler vom Veranstalter gleich einem Popkonzert angekündigt wurden: „Sabina von Walther & friends“. Ungewöhnlich war das szenische Arrangement, vom farbigen Licht bis zu den besungenen Blumenarrangements und einer eigenwilligen Dramaturgie des projizierten, historischen Bildmaterials, sowie Thuille und Strauss in verteilten Rollen. Lyrisch intensiv brachte die Sopranistin Themenkomplexe und Dichtungen zu Gehör, die sowohl von Thuille als auch von Strauss vertont wurden. Sie ermöglichte auf diese Weise den Vergleich zwischen den bekannten Liedern von Strauss und den zumeist unbekannten von Thuille, die aber häufig in Ausdrucksstärke und quasi kammeropernhafter Stimmung als die trefflicheren Versionen erschienen.

Deutsches Museum 1906

Problematischer hingegen ein Konzert der knapp sechzigköpfigen Militärmusik Kärnten (mit Harfe und E-Bass) unter der Leitung von Sigismund Seidl. Außer mit Strauss’ Wiener Philharmoniker-Fanfare und der Introduktion und Fuge für 13 Bläser wurden ausschließlich Bearbeitungen dargeboten, Märsche und Sinfonische Dichtungen des bayerischen Komponisten. Aufhorchen machte gleichwohl Ludwig Thuilles Symphonischer Festmarsch op. 38 aus seinem Festspiel für die Grundsteinlegung des Deutschen Museums in München im Jahre 1906. Die mit Trompetensignalen anhebende, rhythmisch ungewöhnliche, in Themenbildung und Verarbeitung für Thuille typische Festmusik dirigierte als Gast der Südtiroler Landeskapellmeister Gottfried Veit, der seine Bearbeitung auch auf CD eingespielt hat (Symphonic Winds Südtirol, Amos Records 9545).

„ In Memoriam Ludwig Thuille“ konzertierten Dozenten des Bozener Konservatoriums Claudio Monteverdi. Welch enorme Bandbreite Thuilles Streichquintett op. 20 interpretatorisch aufzuweisen vermag, wurde im Abschlusskonzert des Festivals erneut deutlich, wobei der pizzikato gezupfte Kontrapunkt im Schlusssatz einen besonderen Höhepunkt bildete. Die von Richard Strauss seinem Freund Ludwig Thuille gewidmete und von diesem für vier Hände gesetzte Sinfonische Dichtung „Don Juan“ entwickelt geradezu orchestrale Klangfarben, selbst wenn „Motive und deren rhythmische Staffage in der Lage (…) zusammenfallen“ (L. Thuille), zumal wenn sie so trefflich dargeboten wird, wie von Andrea Bambace und Luca Schiepatti. Die Arbeit an seinem Sextett für Klavier, Flöte, Oboe, Klarinette, Fagott und Horn hatte Thuille auf Strauss’ Anraten im Jahre 1885 zunächst fallen gelassen, dann aber wurde das Opus 6 eine seiner bis heute meist gespielten Kompositionen. Ohne Abstriche erstklassig war die Interpretation dieses eigenartigen, an Klangreizen und Entfaltungsmöglichkeiten für die Solisten Giulio Giannelli Viscardi, Arnaldo De Felice, Robert Gander, Egon Lardschneider, Claudio Alberti und Cristiano Borato dankbaren Bravourstücks: ein Meisterwerk, das romantisches Gefühl, skurrilen Humor und harmonische Vielseitigkeit in sich vereinigt.

So fehlte denn bei der Bozener Rückschau auf den Komponisten Ludwig Thuille nur der allerdings wichtigste Teil seines kompositorischen Gesamtwerks, die Oper. Auf diese Lücke wies der anwesende Urenkel des Komponisten, Günter Fabricius in seiner Funktion als Präsident der Thuille-Gesellschaft e.V. mit Nachdruck hin. Intendant Manfred Schweigkofler versprach, Thuille als Musikdramatiker bei den kommenden Festivals Rechnung zu tragen. „Wintermezzo II“, ebenfalls auf Richard Strauss basierend, ermöglicht mit dem Titel „Die Frauen (!) ohne Schatten“ immerhin schon Vorahnungen für Alto Adige/Südtirol im kommenden Winter.

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