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Hans-Joachim Lustig blickt optimistisch in die Zukunft seiner Chorknaben Uetersen. Fotos: privat
Hans-Joachim Lustig blickt optimistisch in die Zukunft seiner Chorknaben Uetersen. Fotos: privat
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Der Trend geht zum Knabenchor

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Hans-Joachim Lustig im Gespräch über die Chorknaben Uetersen
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Die Chorszene ist im Aufbruch, mehr aber noch im Umbruch. Reihenweise sterben Männerchöre und gemischte Chöre werden zu reinen Frauenchören – allenthalben fehlen singende Männer. Und auf der anderen Seite sind reine Knabenchöre im Kommen und in deren Umfeld entstehen – wen wundert’s – Männerchöre. Über die Hintergründe zu diesen Entwicklungen hat sich Robert Göstl anhand eines konkreten Beispiels mit Hans-Joachim Lustig über seine Chorknaben Uetersen aus dem hohen Norden in der Nähe von Lübeck unterhalten.

neue musikzeitung: Herr Lustig, die ganze Chorwelt jammert darüber, dass die Männerstimmen fehlen, aber zu Ihnen kommen die Jungs und auch die Männer. Warum ist das in Uetersen anders?

Hans-Joachim Lustig: Eine gute Frage… Ein allgemeingültiges Rezept gibt es dafür meiner Meinung nach nicht. Wir freuen uns in Uetersen aber tatsächlich unter anderem über sehr gute, stabile Zahlen: Aktuell haben wir in unserem Konzertchor 80 Sänger – 50 Knaben- und 30 Männerstimmen –, die zuvor alle eine dreijährige Vorchorzeit hinter sich gebracht haben. Der Chor hat in Uetersen und Umgebung ein sehr gutes Standing und die kreisweite Presse nimmt uns sehr positiv wahr;  das mag den Chor für Familien erst einmal sehr attraktiv machen. Ganz grundsätzlich erscheint mir für eine nachhaltige Bindung an den Chor wichtig, dass ein entspann-ter, wertschätzender Umgang miteinander gepflegt wird – übrigens in vertrautem aber nicht distanzlosem „Du“. Die Jungs erleben bei uns, dass Disziplin nie ein Selbstzweck, sondern eine notwendige Voraussetzung für gutes gemeinsames Musikmachen ist.

nmz: Funktioniert Knabenchor nur im kirchlichen Bereich?

Lustig: Oh nein! Und da sind wir ja durchaus eines von verschiedenen Bespielen, dass unterschiedlichste Strukturen gut funktionieren können. Unser Chor ist als Verein organisiert, wir können jederzeit in verschiedenen Kirchen in unserer Umgebung singen, müssen es aber nicht. Im Gegensatz zu vielen Chören, die umfangreiche liturgische Aufgaben übernehmen, sind wir bezüglich unserer Termin- und Programmplanung sehr frei. Ich denke, dass jede dieser unterschiedlichen Varianten sowohl ihre Vor-  wie Nachteile hat. Ich persönlich bin sehr froh über den Freiraum, den unser Weg uns lässt.

nmz: Mit dem Begriff „Knabenchor“ verbindet man in Deutschland vor allem die großen Namen wie die Thomaner in Leipzig, die Regensburger Domspatzen, den Dresdner Kreuzchor oder die Windsbacher. Wo sind die Gemeinsamkeiten zwischen Ihren Chorknaben und diesen traditionsreichen Einrichtungen, wo die Unterschiede?

Lustig: In einem Knabenchor, bei dem die Jungs in einem Internat untergebracht sind und täglich miteinander proben, kann man naturgemäß sehr viel mehr Programm erarbeiten. Die genannten Chöre (zumindest die kirchlich angebundenen) müssen das allerdings auch, da sie ja liturgisch stark eingebunden sind. Ich finde, dass der bekannte Film über die Thomaner die verschiedenen Aspekte, die damit verbunden sind, sehr gut transportiert – zusammengefasst: auf der einen Seite die Tatsache, dass die Sänger musikalisch eine unglaublich reiche Palette an Musik mitnehmen, auf der anderen Seite aber, dass sie sich derart stark mit einem bestimmten Bereich des Lebens befassen, dass andere Anteile zwangsläufig kürzer oder vielleicht sogar zu kurz kommen.

nmz: Haben Sie Angst vor Knabenchorklischees?

Lustig: Nein, hab´ ich nicht, beziehungsweise: Welches sind denn eigentlich Knabenchorklischees? Als ich vor knapp 14 Jahren in Uetersen anfing, war für mich ein Knabenchor auch eine Art Jugendchor und das hat sicherlich bis heute auch Einfluss auf meine Art der Programmauswahl. Ich weiß, dass viele Knabenchöre vorrangig ein traditionelles Repertoire (Geistliches, Schütz, Bach, Mendelssohn…) singen – das ist bei uns nicht der Fall. Ich mache mit den Jungs jede Art von Musik, die ich selbst gerne mag und das beinhaltet neben den genannten Namen unter anderem auch Komponisten unserer Zeit sowie Pop, Jazz oder Crossover. Als ich vor einigen Jahren den Sängern ankündigte, dass uns auf einer Probenfahrt ein Komponist besuchen werde, der etwas für uns schreiben möchte, war eine der Reaktionen: „Wie? Komponisten sind doch alle tot, oder?“ Diese Sicht hat sich inzwischen sehr geändert. Der Konzertchor hat zum Beispiel letztes Jahr in der Laeiszhalle an der Uraufführung einer Sinfonie der Hamburger Komponistin Gloria Bruni mitgewirkt. Auch bei Kooperationen mit Eric Whitacre und Ola Gjeilo oder auch Bertrand Gröger geht es mir darum, die Sänger erleben zu lassen, dass nicht irgendwelche Arten von Musik (geistlich, weltlich, alt, neu, „E“, „U“…) per se gut oder schlecht sind, sondern es unsere Aufgabe ist, jedem Stil möglichst gerecht zu werden. Dass sich dann manche in diesem oder jenem Genre mehr zu Hause fühlen, ist völlig in Ordnung.

nmz: Welche Literatur singen die Jungs besonders gerne?

Lustig: Das ist nicht so pauschal zu beantworten. Die meisten reizen grundsätzlich anspruchsvollere Stücke; das gilt zumindest für diejenigen, die schon etwas länger dabei sind. Als etwa für ein bestimmtes Projekt eine Reihe von leichteren poppigen Stücken auf dem Programm standen, hat das allen Beteiligten zunächst viel Spaß gemacht, nach kurzer Zeit kamen dann aber doch Fragen, ob wir jetzt nicht doch einmal wieder achtstimmige Mendelssohn-Motetten oder etwas barockes Doppelchöriges singen könnten. Die Jungs erleben es neben der unzweifelhaften Qualität dieser Musik schon als Reiz, sich einer derartigen Herausforderung zu stellen; das hat manchmal schon etwas Sportives.

nmz: Springen während der Pubertät viele ab beziehungsweise was tun sie, damit dies nicht geschieht?

Lustig: Ein spannendes Thema und zum Glück kann ich sagen, dass wir uns über einen zu geringes Interesse nach der Mutation bei uns weiter zu singen, nicht beklagen können. Meiner Meinung nach spielen dafür unter anderem zwei Faktoren eine Rolle. Zum einen die Art des Miteinanderumgehens: Unsere Männerstimmen erleben, dass wir sie in gewisser Weise an einer langen Leine laufen lassen. Wir vertrauen ihnen in sofern, dass wir ihnen Vieles ermöglichen, so lange sie in dem Moment, in dem es darauf ankommt, den Notwendigkeiten gerecht werden, und das bezieht sich sowohl sozial auf ihre Vorbildrolle den Jüngeren gegenüber, als auch musikalisch darauf, dass sie ihren Teil zum musikalischen Gelingen unseres gemeinsamen Projektes beitragen. Der zweite Punkt scheint mir das Repertoire zu sein. Kurz nachdem ich in Uetersen angefangen hatte, wurde mir deutlich, dass die Männerstimmen, die ja alle mit sechs Jahren bei uns angefangen hatten, auf Grund ihrer gewonnen Erfahrungen sehr viel schneller und differenzierter lernen können. Das erschien mir als verschenktes Potenzial und wir haben begonnen, mit den Männerstimmen zusätzlich zum Repertoire des Gesamtchores eigenes Programm zu erarbeiten. Erfolge beim Deutschen Chorwettbewerb (Erster Platz und Preis in der Kategorie Männerchor) und CD-Aufnahmen („Light and Love“) haben verschiedene Komponisten auf uns aufmerksam gemacht, die für uns maßgeschneiderte Werke geschrieben haben (Vytautas Miškinis, Ugis Praulins, Paul Mealor u.a.). Unsere Knabenstimmen bekommen natürlich mit, welche wirklich sehr besonderen Dinge die Männerstimmen erleben und ich freue mich, dass trotz des sichtbaren und spürbaren Aufwandes fast alle es kaum abwarten können, baldmöglichst dort dabei zu sein.

nmz: Hindert Sie der sehr traditionelle Name „Chorknaben Uetersen“ daran, zeitgemäß und zukunftsorientiert zu arbeiten?

Lustig: Spontan ganz eindeutig nein. Allerdings entstehen an manchen Stellen Irritationen oder leichte Probleme: Manchmal ist es so, dass Menschen, die den Begriff „Chorknaben“ hören, mit einer eher traditionellen Hörerwartung in unsere Konzerte kommen. Werden diese dann, was ja bei manchen Programmen so ist, nicht komplett erfüllt, setzt das ein gewisses Maß an Toleranz und Offenheit voraus. Andererseits schreckt eventuell manchmal ein eher konservativ empfundener Name Besuchergruppen (ich denke dabei vor allem an Jüngere) ab, die durchaus eine Menge Spaß bei unseren Auftritten haben könnten, wenn sie hingingen. Den Stein der Weisen haben wir hinsichtlich dieses Problems noch nicht gefunden.

nmz: Wenn unsere Leser jetzt neugierig geworden sind und auch einen Knabenchor gründen wollen – welche Voraussetzungen sollten zum Gelingen gegeben sein?

Lustig: Ich glaube, das ist relativ banal: Man muss grundsätzlich Lust haben, Musik zu machen und darf keine Angst vor Gruppen, vor Menschen, speziell Jungs haben.

nmz: Um zur Eingangsfrage zurückzukommen: Was muss in Deutschland geschehen, damit der dramatische Schwund an Männerstimmen aufgehalten und eine Trendwende erreicht werden kann?

Lustig: Ehrlich gesagt bin ich zunächst einmal sehr froh, dass uns dieses Problem nicht betrifft. Zu unseren Situation bei den Chorknaben Uetersen habe ich ja einiges gesagt, in meinen Kammerchor „I Vocalisti“ genieße ich die luxuriöse Situation, unter anderem aus dem Fundus meiner Uetersener Männerstimmen schöpfen zu können. Was muss geschehen? Jungs müssen singen – in Kindergärten, Schulen, Kinderchören, Knabenchören, gemischten Jugendchören… Singen ist eben nicht zwangsläufig uncool, uncool ist vielleicht häufig nur die Art, wie es getan und/oder angeboten wird. Wenn wir durch unsere Art einen Teil dazu beitragen könnten, dass es in dieser Richtung etwas vorangeht, wäre das eine prima Nebenwirkung der großen Freude, die wir selbst dabei erleben.

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