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Christfried Brödel. Foto: Steffen Giersch
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Die internationale Bach-Familie muss Abstand halten

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Christfried Brödel über die Arbeit der Neuen Bachgesellschaft in Leipzig
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1850 wurde die Bachgesellschaft im Gewandhaus zu Leipzig gegründet – unter anderem von Franz Hauser, Franz Liszt und Louis Spohr – mit dem Ziel, alle Werke Bachs in einer Druckausgabe zu veröffentlichen. Nachdem 1899 der Schlussband der Bachausgabe der Öffentlichkeit übergeben worden war, löste man sich 1900 wegen Erfüllung des Satzungszwecks auf. Im gleichen Jahr erfolgte die Gründung der Neuen Bachgesellschaft mit dem Ziel, die Bach‘schen Werke in der Öffentlichkeit bekannt zu machen. Diesem Ziel sollten unter anderem jährlich stattfindende Bachfeste an verschiedenen Orten dienen. Das erste Bachfest fand 1901 in Berlin statt. Heute unterstützt die Neue Bachgesellschaft wesentliche Aktivitäten der Bachforschung, führt jährliche Bachfeste durch und hat sich besonders die Vermittlung von Kenntnissen über die Musik Bachs – und auch die Liebe zu ihr – an die nachfolgende Generation zur Aufgabe gestellt. Seit 2015 hat der Kirchenmusiker und Hochschullehrer Christfried Brödel das Amt des Vorsitzenden inne. Die neue musikzeitung unterhielt sich mit ihm über die Aufgaben der Bachgesellschaft heute.

neue musikzeitung: Kirchenmusik gehört seit der Kindheit zu Ihrem Leben. Was ist denn das Movens für einen Künstler und Chorleiter, auch eine Managertätigkeit zu übernehmen und jahrelang erfolgreich auszuführen?

Christfried Brödel: Ich bin in meinem Leben auf vielen Strecken aktiv gewesen. Kirchenmusik gehört seit der Kindheit dazu. Dann aber habe ich Mathematik studiert und in zwei Forschungsinstituten gearbeitet. Dabei konnte und musste ich lernen: Wer inhaltlich etwas bewirken will, muss sich auch um die äußeren, organisatorischen Belange kümmern. Das kam mir in meiner Tätigkeit als Rektor der Dresdner Hochschule für Kirchenmusik zustatten. Nach dem Tod meines Vorgängers Prof. Martin Petzoldt wurde ich gefragt, ob ich bereit sei, den Vorsitz der NBG zu übernehmen. Ich habe zugesagt und mich zur Wahl gestellt. Mit meiner Arbeit als Vorsitzender möchte ich dazu beitragen, dass viele Menschen, besonders auch in den nachfolgenden Generationen, die Musik Bachs kennen und lieben lernen. Um diesem Ziel zu dienen, leiste ich auch gerne organisatorische Arbeit. 

nmz: Wie stellt sich die Struktur der Bachgesellschaft dar?

Brödel: Die NBG ist eine internationale Gesellschaft und hat etwa 3.000 Mitglieder. Zu unseren Bachfesten findet immer eine Mitgliederversammlung statt. Aber stets ist dabei nur eine Minderheit der Mitglieder anwesend. Deshalb gibt es das Direktorium, das von der Mitgliederversammlung gewählt wird und die Stimme der Mitglieder bei allen wesentlichen Entscheidungen repräsentiert. Dieses Direktorium, dem über zwanzig Personen angehören, wählt und kontrolliert den Vorstand. In Leipzig haben wir eine Geschäftsstelle mit zwei teilbeschäftigten Mitarbeitenden. Alle anderen Arbeiten erfolgen rein ehrenamtlich.

nmz: Was ist Bachpflege heute?

Brödel: Frühere Ziele der NBG, wie die Drucklegung aller Bachwerke und deren Verbreitung sind erreicht. Aber gerade in unserer Zeit, in der viele kulturelle Umbrüche stattfinden, braucht es unsere Kraft, um auch künftig vielen Menschen die Musik Bachs nahezubringen. Wir wollen, dass sie an möglichst vielen Stellen musiziert wird.

Wir hören heute die Werke Bachs nicht nur bei den Gelegenheiten, für die sie geschrieben wurden, sondern auch in ganz anderem Kontext. Hier haben wir die wichtige Aufgabe, den heutigen Menschen den Geist der Musik Bachs zu erschließen.

nmz: Können Sie das an einem Beispiel festmachen?

Brödel: Denken Sie an die geistlichen Werke, die Kantaten, Oratorien, Passionen und Messen. Bach schrieb seine Kantaten für die Aufführung im Gottesdienst. Heute werden sie nicht nur dort musiziert, sondern vielfach in Konzerten außerhalb des kirchlichen Rahmens. Viele Menschen bei uns kennen nicht mehr die biblischen Grundlagen, auf die die Kantatentexte Bezug nehmen.  In anderen Ländern, zum Beispiel in Japan, gibt es eine sehr breite Bachpflege in einem völlig anderen religiösen Umfeld als bei uns.

Um die zutiefst humane geistig-geistliche Substanz der Werke zu verstehen, braucht es einen Informations-, Annäherungs- und Transformationsprozess. Zudem gibt es viele junge Menschen, die alter Musik mit Vorbehalten begegnen. Ihnen müssen wir zeigen, wie glutvoll lebendig Bachs Musik ist. Deshalb unterstützen wir auch musikwissenschaftliche und aufführungspraktische Arbeiten.

nmz: Die NBG, die jetzt zirka 3.000 Mitglieder hat, führt jährlich Bachfeste durch. Dieses Jahr hätte es in der Bachstadt Leipzig stattfinden sollen, wurde aber wegen der Coronavirus-Pandemie abgesagt. Der Leipziger Oberbürgermeister Burkhard Jung (SPD) habe der Stiftung Bach-Archiv die Absage angeordnet, teilten die Organisatoren am 6. April mit. Wie reagieren Sie auf diese Entscheidung, wie verfahren Sie weiter: verschieben oder ganz absagen?

Brödel: In der gegenwärtigen Situation war die Absage des Leipziger Bachfests unvermeidlich. Das ist sehr traurig, denn es war eine geniale Idee von Prof. Michael Maul, die Bachchöre und -ensembles aus aller Welt unter dem Motto „Bach – We are family“ nach Leipzig einzuladen. Aber dieses Vorhaben, das ein so großes, positives Echo in allen Erdteilen fand, ist nicht gestrichen, sondern nur verschoben. Voraussichtlich wird dieses Bachfest 2022 nachgeholt werden; und die NBG engagiert sich dann ebenso, wie sie es jetzt getan hat.

nmz: Denken wir hoffnungsvoll an die Nach-Corona-Zeit: Wie funktionieren die Bachfeste?

Brödel: Bachfeste sind ein wichtiger Bestandteil unserer Arbeit in der NBG. Sie finden jährlich an unterschiedlichen Orten statt – 2016 in Dresden, 2017 Ansbach, 2018 Tübingen, 2019 Ros­tock. Alle fünf Jahre ist das NBG-Bachfest in Leipzig – so wäre es auch 2020 gewesen. Planungen laufen immer schon drei bis vier Jahre voraus. 2021 sind wir in Gotha-Ohrdruf, 2023 in Eutin-Plön.

Die Stadt Leipzig macht in jedem Jahr ein Bachfest, das aber eben nur alle fünf Jahre mit dem NBG-Bachfest zusammenfällt. Wenn 2020 im Jahr 2022 nachgeholt wird, wollen wir als NBG natürlich mit dabei sein, so wie wir es jetzt im Juni gewesen wären.

nmz: Welche Ziele verfolgen Sie mit den Bachfesten?

Brödel: Es ist immer ein großes Fest, wenn wir uns bei einem Bachfest begegnen. Gemeinsam hören wir in einer Reihe von Konzerten, Gottesdiensten, Workshops und anderen Formen Musik von Johann Sebastian Bach beziehungsweise. von anderen Komponisten mit Bezug auf ihn. Sie werden von Spitzeninterpreten dargeboten, aber ebenso von den Kräften an den jeweiligen Festorten und der umgebenden Region. Jedes Bachfest hat einen eigenen Charakter – je nachdem, ob es an einem international bekannten Musikzentrum oder in einem kleineren Ort stattfindet. Nicht zu vergessen ist der nachhaltige Impuls für die Bachpflege an den Festorten, der noch lange nachwirkt.

nmz: Wie entwickeln Sie prinzipiell ein Bachfest? Gibt es da Vorgaben?

Brödel: Unsere Planungen gehen schon bis 2025/2026. Das läuft so: Wir treten mit Interessenten in Verhandlungen ein. Beispielsweise haben gerade Eisenach und Münster ihr Interesse an einem Bachfest bekundet. Für die Vorbereitung und Durchführung der Bachfeste haben wir Richtlinien erarbeitet. Sind die Vorverhandlungen abgeschlossen, vergeben wir den offiziellen Titel „x. Bachfest der Neuen Bachgesellschaft“ und nehmen aktiv an der Entwicklung des Programms teil. Im Haushalt der NBG steht für jedes Bachfest eine Summe bereit, mit der wir ein Projekt unterstützen können, am liebsten ein Jugendprojekt. Für eine weitergehende Finanzierung fehlen uns die Mittel. Wir haben als Einnahmen neben einer dankenswerten Förderung durch die Stadt Leipzig nur Mitgliedsbeiträge und Spenden. Deshalb müssen sich die Bachfest-Orte selbst um die Finanzierung kümmern.

nmz: Hat die Johann-Sebastian-Bach-Stiftung etwas mit der Finanzierung zu tun?

Brödel: Die Stiftung ist gegründet worden, um die finanzielle Grundlage der Arbeit der Bachgesellschaft zu verbessern. Für Großprojekte wie eine Bachakademie in Osteuropa sind wir auf eine kombinierte Finanzierung angewiesen: Spenden unserer Mitglieder, Mittel der Bachstiftung und externe Förderer. Wir sind sehr froh, dass uns das Auswärtige Amt für die Bachakademie im November in Dnipro eine namhafte Fördersumme bewilligt hat. Dadurch ist die Durchführung finanziell abgesichert.

nmz: Könnten Sie noch etwas zur der Idee einer Bachakademie sagen?

Brödel: Helmuth Rilling hat diese Idee aus der Taufe gehoben und entwickelt. Nach dem Fall der Mauer hat er in Leipzig einige Kollegen versammelt und mit ihnen über eine Ausweitung der Arbeit in Richtung Osteuropa beraten. Dabei fragte er mich, ob ich bereit wäre, eine Bachakademie an seiner Stelle zu leiten. Ich habe mich über sein Vertrauen gefreut und gesagt, ich würde das gerne übernehmen. Dann haben wir in Rumänien mit der Arbeit begonnen. Die erste Akademie wurde noch aus  Stuttgart unterstützt, jetzt werden die Bachakademien von der NBG getragen. Ich habe das Rilling‘sche Modell übernommen und etwas modifiziert. Vereinfacht gesagt, leisten wir Hilfe zur Selbsthilfe. Bei den Bachakademien in Osteuropa arbeiten Dozentinnen und Dozenten aus Deutschland während eines zweiwöchigen Kurses ein qualifiziertes Bach-Programm mit Musikstudenten des jeweiligen Gastortes. Die letzten Bachakademien fanden in Dnipro (Ost­ukraine) statt – in Zusammenarbeit mit der dortigen Musik­akademie und mit tatkräftiger Hilfe des deutschen Generalkonsulats. Die nächste Bachakademie ist für November 2020 geplant und beschäftigt sich mit der Matthäuspassion.

nmz: Heute ist der Dresdner Hans-Christoph Rademann in Stuttgart tätig und hat eine Originalklang-Reformation angestoßen.

Brödel: Hans-Christoph Rademann kenne ich gut. Er hatte seinen ersten Chorleitungs-Lehrauftrag an der Hochschule, die ich geleitet habe. Jetzt ist er Mitglied des Direktoriums der Neuen Bachgesellschaft. Ich freue mich, dass er in Stuttgart, einem bedeutenden Zentrum der Bachpflege, neue Impulse setzt und so erfolgreich arbeitet. Lokale Prägungen stellen einen Reichtum dar, dürfen aber nicht zu Provinzialität führen. Nicht zuletzt durch die neuen Medien sind wir über größere Distanzen miteinander verbunden. Wir sind EINE Kulturnation und wir sind EIN Europa. So sollten wir unsere Vielfalt bewahren, voneinander wissen und fruchtbar zusammenarbeiten.

nmz: Was gehört noch zum Portfolio der Neuen Bachgesellschaft?

Brödel: Einer unserer Schätze ist das Bachhaus Eisenach, das der NBG gehört. Das Museum in Bachs Geburtsstadt bietet neben einer sehr guten Dauerausstellung regelmäßig Sonderausstellungen zu speziellen Themen an, die auch außerhalb Eisenachs viel Beachtung finden (z. B. „Blut und Geist“ – Bach, Mendelssohn und ihre Musik im Dritten Reich / „Luther, Bach und die Juden“).

Weiterhin finanziert die NBG das jährlich erscheinende Bach-Jahrbuch. Gegenwärtig herausgegeben von Prof. Dr. Wollny, dem Direktor des Bach-Archivs Leipzig, ist es die renommierteste Publikation auf dem Gebiet der Bach-Forschung. Mit dem Bach-Jahrbuch fördert die NBG diesen Wissenszweig an entscheidender Stelle.

nmz: Neben den Bachakademien verantwortet die Neue Bachgesellschaft weitere Projekte der Bachpflege. Welche sind das?

Brödel: Als erstes Beispiel nenne ich „Bach in die Schulen“. Wir stellen ansprechende Unterrichtsmaterialien bereit, die den Lehrerinnen und Lehrern einen Anreiz bieten, Bach im Unterricht zu behandeln. Verschiedene Module für die Klassen 7/8 sowie  9/10 stehen kurz vor der Vollendung; weitere sind geplant. Eben haben wir die Arbeiten am vierten und letzten Band des Bach-Kommentars von Martin Petzoldt abgeschlossen, die im Zusammenwirken mit der Internationalen Bachakademie Stuttgart, gefördert unter anderem von der Friede Springer Stiftung, vollendet werden konnten. Der Band ist beim Bärenreiter-Verlag erschienen.

Das Gespräch führte Andreas Kolb

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