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Anne Riegler bei ihrer Abschlussprüfung des Masters Klavierimprovisation an der HMDK Stuttgart im Januar 2023 beim interdisziplinären Improvisieren mit Künstlerin Dilara Wegner. Foto: Daniel Alexander Weiss
Anne Riegler bei ihrer Abschlussprüfung des Masters Klavierimprovisation an der HMDK Stuttgart im Januar 2023 beim interdisziplinären Improvisieren mit Künstlerin Dilara Wegner. Foto: Daniel Alexander Weiss
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Die neue Lust am Improvisieren

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Wie klassische Improvisation in Konzertleben und Unterricht zurückkehrt
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Sie ist uns still und heimlich abhanden gekommen, irgendwo zwischen Liszt und Kapustin: die klassische Klavierimprovisation. Während wir im Jazz ganz selbstverständlich davon ausgehen, dass das Improvisieren die unverrückbare Mitte, vielleicht sogar den Wesenskern dieser Stilrichtung ausmacht, spielt sie im klassischen Konzertbetrieb kaum eine Rolle. Hin und wieder bringt ein Musiker eigene Kompositionen mit auf die Bühne oder spielt im Mozartkonzert eine selbstkomponierte Kadenz. Aber improvisieren? Das können wir nicht, das wagen wir nicht, das ist den wenigen Auserwählten vorbehalten, denen das Schicksal, Gott oder die Gen-Lotterie eine entsprechend geniale Begabung mitgegeben hat. Oder?

In den letzten Jahren ist ein zaghaftes, aber wachsendes Interesse an Improvisation in klassi­schen Stilistiken zu beobachten. Lange schon fristete sie an den Hochschulen ein unverdientes Schattendasein, tauchte für Pianisten immerhin im Schulpraktischen Klavierspiel für Schulmusik- und manchmal Instrumentalpädagogikstudierende auf. Die Musikhochschule Lübeck indes vergab bereits vor zehn Jahren als erste eine Professur für „angewandtes Klavierspiel“ an Laurens Patzlaff, welches explizit auch die Improvisation einschließt. Auch ein wachsendes Angebot an Fortbildungen und Meisterkursen ist zu beobachten. Es war nur eine Frage der Zeit, bis eine Musikhochschule einen Studiengang für klassische Klavierimprovisation anbieten würde. Die Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Stuttgart war die erste: Sie schuf 2020 den nach eigenen Angaben weltweit ersten Master in klassi­scher Klavierimprovisation. Durch Zufall bin ich, die Autorin dieses Artikels, im Januar dieses Jahres die erste Absolventin jenes Masters geworden und möchte dies zum Anlass nehmen, von diesem Studiengang, der Freude am Improvisieren und von ihren vielfältigen Anwendungsmöglichkeiten zu berichten.

Klavierimprovisation im Studium

Es ist nicht ganz einfach zu beantworten, warum wir die Improvisation vor gut 100 Jahren aus den Augen verloren haben. Dass wir sie uns zurückerobern, davon ist Prof. Noam Sivan allerdings überzeugt: Der gebürtige Israeli und langjährige Wahl-New-Yorker wanderte mit seiner Familie nach Deutschland ein, um als neuberufener Professor für Klavierimprovisation an der HMDK Stuttgart das klassische Konzertleben aufzumischen. Von Anfang an zog er weitreichendes Interesse auf sich; seine Klasse setzt sich aus Studierenden aus München, Berlin, Würzburg, Salzburg und sogar Spanien zusammen. Die meisten haben ihre Klavierausbildung bereits abgeschlossen, sind im Konzertleben oder der (Hochschul-)Lehre tätig und studieren diesen Master wie eine ausführliche, berufsbegleitende Fortbildung. Auffällig außerdem: Alle bisherigen Studierenden (abgesehen von mir) sind männlich. Qualifizierte Musikerinnen sind daher ausdrücklich zur Bewerbung aufgefordert, und auch ein Studium direkt im Anschluss an einen Klavier-Bachelor ist möglich. Prof. Noam Sivan interessiert nicht, wie alt jemand ist. Ihn interessiert, ob jemand für die Improvisation genauso brennt wie er.

Wie Improvisieren erlernen?

Seine unübersehbare Begeisterung geht einher mit höchster fachlicher Kompetenz und einem ebenso hohen Anspruch an seine Studierenden. Dabei spielt es keine Rolle, ob man im Klavierbachelor das Pflichtfach Improvisation belegt oder sie als Hauptfach im Master studiert: die Aufgaben werden an das Können angepasst. Eines seiner wichtigsten Ziele ist, die Menschen selbstbewusst zum Musizieren zu bringen. Improvisationsfähigkeit erlangt man durch Übung, genau wie Fertigkeiten auf dem Instrument oder im Dirigieren. Man kann es eben nicht einfach so.

Sivans Herangehensweise setzt sich aus verschiedenen Bausteinen zusammen. Die übergeordnete Idee sieht vor, sich beim Üben mit nur einem Aspekt des Improvisierens zu beschäftigen. Dazu gehört das Üben von Kadenzen, Sequenzen und Akkorden, Generalbassspiel, Melodiespiel mit und ohne Begleitung, Improvisation mit festgelegtem Klaviersatz, einer Harmoniefolge oder Basslinie. All das metrisch frei oder gebunden und in ständiger Transposition. Auch das gängige Repertoire dient als Inspirationsquelle, sei es in Bezug auf Stilistik, Form, Motivbehandlung oder die Harmonik einer Durchführung. Schnell wird klar: in vier Semestern können nur Grundlagen gelegt und bestehendes Können erweitert werden. Die Entwicklung der Improvisationsfähigkeit bleibt genauso eine Lebensaufgabe wie die Beschäftigung mit dem Instrument.

Sivan möchte die Improvisation wieder unter den Musikern verbreiten, hofft dabei auch auf seine Studierenden und beschränkt sich durchaus nicht auf das Klavier: Improvisationsunterricht ist auf allen Niveaustufen möglich und mit allen Instrumentalisten – sowohl im Einzel- als auch im Gruppenunterricht. Zum Beweis nimmt er mich und einen weiteren Studenten mit in eine Musikschule, wo wir junge Streicher in Kleingruppen und im großen Ensemble im Improvisieren anleiten. Er behält Recht, es funktioniert. Ausnahmslos alle Musikschüler improvisieren – musikalisch und künstlerisch ansprechend und kreativ.

Improvisation verändert Sicht auf ganzes Musizieren

Vom neuen Improvisationsstudiengang erfuhr ich durch Zufall während des ersten Corona-Lockdowns 2020, zwangsbefreit von sämtlichen Musizieranlässen meldete ich mich spontan zur Aufnahmeprüfung an. Ich überraschte mich selbst mit der Zulassung, kam ich doch eher vom Literaturspiel und Komponieren und weniger vom Stegreifmusizieren. Vier Semester später könnte ich kaum dankbarer sein für die tiefen musikalischen Erkenntnisse, die mir die Beschäftigung mit der Improvisation geschenkt hat. Wie kann man eine Brücke schlagen von der Musiktheorie zur Musikpraxis? Durch die Improvisation. Frei nach dem Motto: Willst du etwas verstehen, transponiere es und improvisiere damit. Neu und frisch wurde mein Blick auf die kleine Kurve einer Zwischendominante, auf die Wandelbarkeit des vollverminderten Akkords, auf die befriedigende und strukturelle Wirkung sämtlicher Sequenzen. Selten war mir vorher die melancholische Intensität des Halbverminderten Akkords vollumfänglich bewusst geworden, hatte ich die wunderschöne Skurrilität der oktatonischen Tonleiter ausgekos­tet oder die durchschlagende Erfolgswirkung der Periodenform bewundert. Die Beschäftigung mit der Improvisation hat meine Auffassungsgabe und mein Musikverständnis von Repertoire erhöht, mein Primavistaspiel verbessert, meine Kompositionsgrundlage erweitert.

Vor allem aber habe ich eine ganz neue musikalische Ausdrucksform dazugewonnen, die ihren Platz im privaten Musizieren, im Konzert und im Unterricht findet. Die Improvisation mag zwar möglicherweise eine vorhergehende Planung beinhalten, ist dann aber immer ein Abbild des Moments. Sie wird beeinflusst von der eigenen Stimmung, dem Spiegel des Publikums, der Atmosphäre des Raums, den Möglichkeiten des Instruments, auch dem Zufall. In ihrem Entstehen gibt es kein Warten und kein Zurück, sie ist nach dem Verklingen unwiederbringlich vorbei. Es ist durchaus ein Akt der Befreiung, beim Spielen nur sich selbst und den eigenen Ideen verpflichtet zu sein, unbeabsichtigte Klänge spontan zu integrieren, an jeder Abzweigung neu zu wählen, sich überraschen zu lassen. Freimachen kann man sich von dem Anspruch, Kompositionen großer Meis­ter nacheifern zu müssen. Das Komponieren geht einher mit Zeit zum Ausprobieren, mit Nachdenken, Wiederholen, Ändern und Herumfeilen, bis der Komponist zufrieden ist und die Arbeit abschließt. Die Improvisation ist etwas Flüchtiges. Sie bleibt dort, wo sie entsteht, und Form und Perfektion stehen weniger im Fokus als Klang, Charakter und Kreativität des Spielers.

Improvisation im Unterricht nutzen

Da ich an der Würzburger Musikhochschule neben Klavier auch Fachmethodik unterrichte, beschäftige ich mich mit der Frage, wie man die Improvisation schon im frühen Instrumentalunterricht nutzen kann. Neben ihrem großen Wert als absolute Ausdrucksform kann sie auch als Werkzeug fungieren, während man an Literaturstücken arbeitet. Sehr beliebt ist die pentatonische Improvisation auf schwarzen Tasten, die bereits in der ersten Klavierstunde wohlklingendes Musizieren ermöglicht. Der Lehrer unterlegt selbst zaghafteste Versuche mit einer Begleitung, und eine Improvisation mit anfänglich zwei Tasten kann Schritt für Schritt erweitert werden. Währenddessen erhält der Lehrer einen Eindruck über den Kenntnisstand des Schülers anhand der Art und Weise, wie er die Hände über die Tasten führt, den Klängen lauscht, das Metrum wahrnimmt und mit Aufgaben kreativ umgeht. Fortgeschrittene Schüler improvisieren über ein einfaches Ostinato im begrenzten Tonraum oder vertonen eine Geschichte mit Klängen und Geräuschen. Aus gerade gespielten Stücken können Elemente wie eine Begleitfigur, ein Motiv oder ein Rhythmus entnommen und zur Grundlage einer Improvisation gemacht werden. So kreiert man eigene Etüden und Fingerübungen mit dem Ziel, schwierige Stellen nicht nur mechanisch zu wiederholen, sondern im Rahmen einer Improvisation stets mit Sinn und Musik zu füllen und von allen Seiten zu betrachten.

Improvisieren? – Fangt einfach an!

Seit 2021 bietet auch die Hochschule für Musik Freiburg einen Master in Klavierimprovisation an, der auch Jazz mit einschließt; weitere Hochschulen mögen folgen. In Leipzig gibt es einen Improvisationsmaster, der offen für alle Instrumente ist, im Klaviermaster der Musikhochschule Dresden kann man Improvisation als Ergänzungsmodul wählen. An der mdw in Wien ist Improvisation und kreatives Musizieren Pflichtfach in allen Instrumentalstudien (leider ist das Klavier ausgenommen), in Stuttgart und Lübeck dagegen ist sie Pflichtfach im Klavier-Bachelor. Bei der Hochschulauswahl lohnt sich also ein Vergleich der Angebote und Modulpläne.

Fast noch beglückender als allein zu improvisieren, ist das gemeinsame Spiel im Ensemble. Im Rahmen einer Gruppenimprovisation mit verschiedenen Instrumenten resümierte ein erwachsener Teilnehmer: „Für mich ist Gruppenimprovisation ein politischer Akt.“ Er erklärte sinngemäß, dass es für ihn ein besonderer Moment sei, wenn Menschen verschiedenster Hintergründe und Kulturen zusammenkämen, spontan gemeinsam musizierten, aufeinander hörten und reagierten und ohne Sprache eins würden. Die Welt wäre sicher eine andere, wenn Spitzenpolitiker und Machthaber solche Momente miteinander erleben könnten. Solche Aussagen resonieren und hallen nach, sie rufen uns die gesellschaftliche und kulturelle Bedeutsamkeit unserer Arbeit als Musiker und Musiklehrer in Erinnerung. Wir dürfen die Improvisation ganz mutig integrieren und einfach loslegen, so wie schon der Klavierpädagoge Peter Heilbut in den 1970er-Jahren die Schüler seiner Modellklassen aufforderte: „Komm, spiel mit!“

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